Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Bund Deutscher Kunsterzieher [Editor]
Kunst und Jugend — 4.1910

DOI issue:
Heft IX (September 1910)
DOI article:
Bender, E.: Genie oder Fleiss
DOI Page / Citation link:
https://doi.org/10.11588/diglit.34105#0133

DWork-Logo
Overview
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
119

Eltern das freiwillige Zeichnen ihrer Kinder nicht unterdrücken, sondern sich
glücklich preisen, dass ihre Söhne und Töchter solche „Neigungen“ besitzen. Das
Leben des besprochenen Mädchens wird reich an Freude sein, denn sie hat Augen,
die sehen können.

Auch die Zeich-
nungen zu den Figuren
11— 17 hat eine Schülerin
der Höheren Mädchen-
schule Karlsruhe gefer-
tigt. Sie ist jetzt 14
Jahre alt, die Figuren 11,
12 und 16 sind aber schon
vor einem Jahre entstan-
den. Vergleicht man diese
Leistungen mit den Zeich-
nungen Fig. 8 — 10, so
fällt zunächst auf die


grössere Keife der künstlerischen Auffassung. Die zuerst besprochenen Zeichnungen
und Ausschneidearbeiten haben bei aller Vollkommenheit noch kindlichen Charakter;
hier aber zeigt sich ein sicheres Herausgreifen des Wesentlichen. Mit welcher Sicherheit
und mit welch grosser Auffassung sind die Naturstudien, vor allem Fig. 14, das „Nach-
mittagschläfchen“, gezeichnet. Und nun die beiden freien Schöpfungen, Fig. IG
„Frühjahr“ und Fig. 17 „Weihnachten“. Offenbart sich hier auch nur eine aufs
höchste geschulte Beobachtungsgabe, eine durch unermüdlichen Fleiss bis zur
Meisterschaft gesteigerte Sicherheit der Hand? Ist das Dargestellte nur Beobachtetes,
das innere Freude geweckt und daher bei der Wiedergabe persönlich belebten
Charakter erhalten hat? Nein, hier zeigt sich mehr: Ein Reichtum inneren Lebens
erschliesst sich uns, eine Kraft der Gestaltung, die wir niemals bei einem so jugend-
lichen Mädchen vermutet hätten. Das Selbstbildnis (Fig. 15) sagt uns klar, ein
Kind ist die Schöpferin dieser Bilder nicht mehr. In der Weihnachtsstimmung
ist das herrliche Weihnachtsbild entstanden; gemalt ist es auf die Rückseite eines
Stoffmuster-Kartons. Die Wahl dieses unscheinbaren Materials beweist, dass es
dem Mädchen nur darauf ankam, dem, was sich in seinem Innern gestaltete, Aus-
druck zu verleihen. Niemand zuliebe, niemand zum Geschenk ist das köstliche,
echt deutsche Bildchen gemalt worden, es ist eine Lebensäusserung einer reichen
inneren Welt. Lässt sich ein solcher Reichtum an Gestaltungskraft, eine solche
Tiefe des Empfindens auch durch Fleiss erringen? Hans Thoma schrieb einem
meiner Schüler in das Gedenkbuch: „Was uns das
Schwerste dünket in der Kunst, das Können, das kann
man durch Fleiss erringen; was den Künstler aber
zum Künstler macht, der
Reichtum der Gedanken,
Bilder und Gestalten,
das kann kein Professor
lehren.“ Dieses Höchste
ist ihm also gegeben,
daher nennen wir den
Künstler „gottbegnadet“.
Aber gerade hier dürfte
das Wort „Wem viel
gegeben ist, von dem
wird man auch viel fordern“ seine weitgehendste Anwendung finden. Mit nie
ermüdendem Fleiss, mit nie ermüdender Ausdauer muss der Gottbegnadete seine
Künstlerschaft erringen. Er muss durch Stunden bittersten Zweifelns an sich
selber zur Höhe schreiten. Endlos ist das Streben nach Vollendung. Das Schaffen
ist des Künstlers Leben und seine grösste Freude, sie lehrt ihn jahrelange Ent-
 
Annotationen