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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 13,1.1899-1900

DOI Heft:
Heft 1 (1. Oktoberheft 1899)
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Bartels, Adolf: Die Modernitis
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https://doi.org/10.11588/diglit.7959#0023

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kosmische Poesie. „Die deutsche Nuance" nennt Moeller-Bruck bezeich-
nenderweise das Hest, in dem er die deutschen Naturalisten behandelt.
Allerdings, sür die „moderne Weltanschauung"ist das Naüonale nur noch
eine Nuance, die Kunst saugt ihre Nahrung aus der Luft, nicht mehr
aus dem Volksboden, nicht das Blut seiner Väter und die ihm inne-
wohnende Krast macht den Künstler, die Nase macht ihn, mit der er
das Zeitgemäße, das „Moderne" erschnüffelt. Wenn doch einmal jemand
dieser sogenannten modernen Weltanschauung auf den Leib rücken
und sie in ihre Bestandteile zerlegen wollte, ich gebe ihm die Versiche-
rung, daß er nur lauter gute alte Bekannte und zuletzt einen gar kläg-
lichen Popanz entdecken würde. Da ist der altbewährte Radikalismus,
der dem Rationalismus des Ausklärungszeitalters entstammt und noch
immer nicht weiß, daß Blut ein besonderer Saft ist. Da sinden wir
die Emanzipation des Fleisches wieder, die in den Romanen der Jung-
deutschen — wo sind sie hin? — genau die nämliche Rolle spielte, wie
das Uebermenschentum in denen der Jüngstdeutschen, die aber natürlich jetzt,
namentlich bei den Damen, geistig vermummt ist. Da erklingt in neuer
Einkleidung immer wieder das ewige „Friß, damit du nicht gefressen
wirst" und damit in lieblichster Gemeinschast die verwaschenste Humani-
tätsduselei. Dazu dann noch etwas mystischen Sexualismus und den
ausschweifendsten Persönlichkeitskultus, und der Brei ist angerührt, mit dem
man die „europäische Neukultur" auffüttern will. Schön, aber die Kunst,
den Dichter als solchen soll man wenigstens nicht nach den Jngre-
dienzen, die sich möglicherweise von dieser Weltanschauung in ihm finden,
abschätzen. Schon Hebbel wehrte sich sehr entschieden, als man ihm die
Absicht, eine neue Weltanschauung schaffen zu wollen, in die Schuhe
schob; „meine Forderung, den jedesmaligen Welt- und Menschenzustand
zu veranschaulichen, verlegt der albernen Jagd aus eine Weltanschauung
geradezu den Weg", schrieb er gegen Julian Schmidt. llnsere Poeten
sind leider stolz daraus geworden, „Propheten" zu sein, und so haben
wir Propheten nicht nur rechts und links, wie Goethe in Koblenz, son-
dern bei uns wird von jeder Chaiselongue, auf der ein „Moderner" seine
Zigarette raucht, aus einer neuen Weltanschauung hervor prophezeit. Ander-
seits läßt sich's der richtige „Moderne" freilich wieder gesallen, wenn man
ihm zumutet, Weltanschauungen anderer Leute, vor allem der Nietzsches,
von außen her Einsluß aus seine Poesie zu erlauben. Früher wars anders:
der bedeutende Dichter bildete seine Weltanschauung aus eigenem in sich
aus, dpnn aber ging nicht das prophezeiende Reden los, wie die
Modernitischen meinen, sondern seine Weltanschauung gewann in seinen
Gebilden Leben. Kurz: der wahre Dichter gestaltet, unbekümmert zu-
nächst darum, ob seine Kunst „der Ausdruck einer kommenden Menschheit"
ist. Goethe spricht sogar von der „Verliebtheit des Dichters in die reale
Beschränktheit", ohne die kein wirklicher Dichter möglich sei, —- der
schrieb das, der auch den Faust gedichtet hat. Der Faust handelt auch
vom Hoffen und Sehnen im Menschengeiste. Zum Seienden gehörts
ja und vielleicht ats das allerbeste darin. Aber eben: hier ists ge-
staltet, hier lebt es daher und redet nicht nur.

Um nun zum Schluß zu kommen: Die Modernitis ist eine ge-
schichtliche Blindheit. Eine künstlich gemachte, denn in Wahrheit kann
sich ja niemand der Einsicht verschließen, daß die geschichtlichen Mächte,

t. Mktoberheft
 
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