Doch gerade beim Urteilen über Farbe ist es äußerst schwierig, objektw
zu bleiben; ich weiß nicht, ob es schon eine physiologische Studie über
den Einsluß der Gewohnheit aus das Urteil über Farbenharrnonie gibt.
Die Pariser Maler verehren Degas grenzenlos. Daß deren Urteil all-
gemeingültig sei, erscheint mir zweifelhast, seit ich eine heroorragende
Persönlichkeit der Pariser Schule während eines ganzen Abends Böcklins
Malerschaft bestreiten börte: der sei wohl Poet, aber kein Maler. Derlei
hört sich gut an, aber es sagt nicht viel. Degas ist fraglos ein vor-
bresflicher Beherrscher der Farbe; doch ist der Höhengrad nicht abzumessen,
da uns hier der absolute Maßstab sehlt.
Der Schluß aus dem bisher Betrachteten ist nun bald ge-
zogen. Wenn in Degas' Kunst vor allem die „kolossale Jndividualität"
wirkt, was zwingt dann, gerade
diese Persönlichkeit als so be-
sonders kolossal, als eine
der ersten Künstlerpersönlich-
keiten hinzunehmen? Haben
wir nicht in Leuten wie Böck-
lin, Thoma, Klinger auch die
abgeschlossensten Persönlich-
keiten, ja haben wir nicht in
Cornelius, in Genelli, in
Ludwig Richter und in wem
sonst noch, die Persönlichkeit
immer und immer wieder zu
seiern? Richard Muther hat
in seiner „Geschichte der Ma-
lerei des XIX. Jahrhunderts"
darzulegen versucht, wie die
Farbensprache, als Wesent-
lichstes der Malerei, im Lause
dieses Jahrhunderts zurück-
gewonnen ward, und kon-
struiert so aufs Künstlichste
die Entwickelung von Corne-
lius her, als dem Manne des
„tiefsten Verfalles". Aber
wie elend stürzt dieses ganze
Gebäude ein, wenn man er-
wägt, daß Max Klinger, mit dem Muther selbst wunderlicher Weise
schließt, kein „rechter Maler" ist, daß er die Farbensprache — darüber
sind sich seine wärmsten Verehrer einig, und diese Einsicht thut ihrer Ver-
ehrung keinen Abbruch — nicht vollkommen beherrscht!
Man kennt und schätzt den Farbenzauberer Whistler heute allenthalben.
Stünde — als Maler — er nicht Velazquez viel näher als Klinger?
Zeichnen nicht viele Leute besser als Böcklin und Thoma, und nun also
auch als Degas? Es sind also immer und immer nur die Persönlich-
keiten, denen wir uns beugen, und nicht nur im romantischen Deutschland.
Das ist das Zugeständnis von Liebermanns Schrist gegenüber den
unbedingten Lobrednern des „Könnens" der Modernen, des Könnens, das
, 2. Gktoberheft
zu bleiben; ich weiß nicht, ob es schon eine physiologische Studie über
den Einsluß der Gewohnheit aus das Urteil über Farbenharrnonie gibt.
Die Pariser Maler verehren Degas grenzenlos. Daß deren Urteil all-
gemeingültig sei, erscheint mir zweifelhast, seit ich eine heroorragende
Persönlichkeit der Pariser Schule während eines ganzen Abends Böcklins
Malerschaft bestreiten börte: der sei wohl Poet, aber kein Maler. Derlei
hört sich gut an, aber es sagt nicht viel. Degas ist fraglos ein vor-
bresflicher Beherrscher der Farbe; doch ist der Höhengrad nicht abzumessen,
da uns hier der absolute Maßstab sehlt.
Der Schluß aus dem bisher Betrachteten ist nun bald ge-
zogen. Wenn in Degas' Kunst vor allem die „kolossale Jndividualität"
wirkt, was zwingt dann, gerade
diese Persönlichkeit als so be-
sonders kolossal, als eine
der ersten Künstlerpersönlich-
keiten hinzunehmen? Haben
wir nicht in Leuten wie Böck-
lin, Thoma, Klinger auch die
abgeschlossensten Persönlich-
keiten, ja haben wir nicht in
Cornelius, in Genelli, in
Ludwig Richter und in wem
sonst noch, die Persönlichkeit
immer und immer wieder zu
seiern? Richard Muther hat
in seiner „Geschichte der Ma-
lerei des XIX. Jahrhunderts"
darzulegen versucht, wie die
Farbensprache, als Wesent-
lichstes der Malerei, im Lause
dieses Jahrhunderts zurück-
gewonnen ward, und kon-
struiert so aufs Künstlichste
die Entwickelung von Corne-
lius her, als dem Manne des
„tiefsten Verfalles". Aber
wie elend stürzt dieses ganze
Gebäude ein, wenn man er-
wägt, daß Max Klinger, mit dem Muther selbst wunderlicher Weise
schließt, kein „rechter Maler" ist, daß er die Farbensprache — darüber
sind sich seine wärmsten Verehrer einig, und diese Einsicht thut ihrer Ver-
ehrung keinen Abbruch — nicht vollkommen beherrscht!
Man kennt und schätzt den Farbenzauberer Whistler heute allenthalben.
Stünde — als Maler — er nicht Velazquez viel näher als Klinger?
Zeichnen nicht viele Leute besser als Böcklin und Thoma, und nun also
auch als Degas? Es sind also immer und immer nur die Persönlich-
keiten, denen wir uns beugen, und nicht nur im romantischen Deutschland.
Das ist das Zugeständnis von Liebermanns Schrist gegenüber den
unbedingten Lobrednern des „Könnens" der Modernen, des Könnens, das
, 2. Gktoberheft