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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 13,1.1899-1900

DOI Heft:
Heft 5 (1. Dezemberheft 1899)
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Avenarius, Ferdinand: Halbwelt
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https://doi.org/10.11588/diglit.7959#0186

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Der ungebildete, aber gesunde Mensch ist krästig in seinem Fuhlen und
Denken: wie sehr sich auch beides oerirren mag, er bethätigt es doch
von sich aus an den Dingen selbst, so lange ihn der Frohn des
Brotverdiencns oder schlechte Geisteslust, in der er lebt', nicht verdirbt.
Es ist da mehr Weiß und Schwarz und weniger Grau, man nennt die
Dinge zum mindesten vor sich selber doch eher beim richtigen Namen,
man weiß, was man für recht und was sür schlecht Hült, und
thut man das Schlechte, so weiß man halt, daß man's thut- Man
hat nicht so viel stilles Bedürsnis nach Selbstbetrug, man kommt im
Notfall auch mit sich aus, ohne sich sür was Gutes zu halten.
Es ist ja eine alte Ersahrung, und die letzten Jahre haben sie
hundertsach bethätigt, daß sich aus kleinen Leuten immer noch das beste
Publikum für große Kunst aussondern und ausbilden läßt. Da ist
eben noch ost ein Stück Frische, Ursprünglichkeit, Selbstündigkeit und
also Krast, die mit drein geworsen wird in den Genuß. Und ebenso ist
es natürlich in der gebildeten gesunden Jugend, soweit sie von der Blasiert-
heit, dieser echten Halbweltsjugend-Krankheit, noch nicht angesteckt ist.
Sonst sreilich verlernt auch sie das natürliche Gefühl, daß ein rechter
Genuß überall, nicht nur im Sport, erworben werden will durch
Bemühung, daß allein die Anstrengung der Kräfte Freuden verbürgt,
die nicht altern, weil sie sich immer neu erzeugen.

Gottlob, wir kommen zum frohlichen Schluß: die Blütezeit der
Halbwelt in unserm Vaterlande ist doch vorbei. Sie beherrscht noch
drei Viertelle unsrer Presse, sie hat ihre sesten Burgen in den Theatern,
wir wissen ja warum. Zu Lindaus und der seligen Gründcr Zeit hat
sie aber noch anders geherrscht, als jetzt. Es ist nicht möglich,
daß heut ein Blatt wie die „Gegenwart" unwidersprochen und von
vorsichtigen Leuten sogar umschmeichelt den Einsluß übe, den sie da-
mals geübt hat. Jn weit auseinander zerstreuten Einzelnen zuerst, in
mehreren, in vielen dann ist seit Jahrzehnten das Bewußtsein vom
Sachverhalt wach geworden, und jetzt haben wir immerhin Dutzende auch
von öffentlichen Stimmen, mit denen das deutsche Gewissen spricht. Man
kennt das Leiden, und man beobachtet es. Und krästige Stimmungen
gehen durch unser Volk wie lüftende Winde vom klaren Himmel. Man
sehnt sich wieder über das Beträneln von Empfindsamkeiten hinaus nach
dem Seelenbade in echter Tragik, man sehnt sich aus all dem Gespaß
heraus wieder nach Humor, man ersehnt nach den Spielereien wieder
den Ernst, und ein Verständnis wüchst aus und grüßt sich von Bruder
zu Bruder, das in der Kunst mit heiligem Schauer die Sprache des
Unaussprechlichen in Menschenseelen begreift. Nur der Halbwelt selber
lügt man noch aus, daß ein „brillantes" Feuerwerk etwas besseres als
die ruhigen Leuchten aus Heimstätten sei und als die Sterne, die serne
Sonnen sind. Es ist wahr: nicht einmal eine andre Erziehung, nein,
erst eine andre Kultur kann das Reich der Halbwelt bis aus die
wenigen Armen entvölkern, die durch Naturanlage ihr verfallen sind.
Aber das Ende ihrer Herrschaft über die Ganzen, das dämmert sicht-
lich heraus: den deutschen Geist bekommt keine Demimonde mehr unter.

A.

Aunstwart
 
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