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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 13,1.1899-1900

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Heft 6 (2. Dezemberheft 1899)
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Lose Blätter
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https://doi.org/10.11588/diglit.7959#0256

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die schönen Weihnachtslieder. Sind sie wirklich alle so schön, oder ist es nur,
weil bei jedem Ton eine ganze vergangene Weihnacht heraussteigt? Nnd dann
tönt wieder die liebliche Geschichte von dem Kindlein in der Krippe, von der
Herrlichkeit, die sich austhat über den nächtlichen Hirten, und von dem Stern,
der über der Hütte von Bethlehem stand. Es war ein grotzer, reiner, sanster
Stern. Seine Schönheit leuchtete allen Landen; aber vor allem herrlich schaute
er herab auf Germaniens weitzstarrende Winterwälder, aus Deutschlands nebel-
rauchende Wiesen! Die Kinder Germaniens lieben aus innerster Seele das
Licht, das durch schweigende Nebel dringt: das feuchte Silber der Winter-
morgensonne, der Elben nächtlich wogende Schleier, durch die das stille Auge
des Mondes blickt. Wenn die Aeste krachen unter der Last des Eises, und
schweigender Schnee seine Schwelle längst schon begrub, dann steht der Deutsche
am dunklen Fenster und spricht mit dem letzten roten Schimmer der sinkenden
Wintersonne.

Dies ist ihm das echte Neusahrssest; es ist Wintersonnenwende. Heute
denkt er zurück, wen er zu sehr gehaßt, wenn er zu wenig geliebt. Er sieht
im müden, warmen Lichte der letzten Röte den Nachbar Fuhrmann nach Hause
kommen, den Tannenbaum unter dem Arme, datz die Spitze durch den Schnee
schleift. Ein Hündchen springt über den Weg und kehrt wieder ins Haus zurück.
Wer wollte denn heut' nicht daheim sein? Weihnacht feiert wohl selbst der
Stein am Wege. Ueber allem ist ein lächelnder, unerschütterlicher Wille zum
Frieden ausgebreitet. Und ganz am äutzersten Rande des weiten Schneefeldes
sieht nun der Deutsche ein niedriges Dach, und über der schneeverwehten Hütte
entzündet sich mehr und mehr ein Stern. Und ganz — ganz leise und ganz
sein — aber doch so klar — und so ruhevoll kommt es dahergezogen, ein Lied,
ach ein feines, wunderbares Lied:

Es ist ein Reis entsprungen
Aus einer Wurzel zart.

Wie uns die Alten sungen,

Von Jesse kam die Art.

Und hat ein Blümlein bracht
Mitten im kalten Winter
Wohl zu der halben Nacht.

Das ist ein deutscher Sang. Denn das erquickt den Deutschen am
innigsten, wenn aus dem verschneiten Winterdunkel ein Schimmer dringt,
wenn aus totenstillen Winternebeln langsam die Sonne des kommenden Früh-
lings blüht.

Und wenn nun hinter ihm im Dunkel der geschmückt schon harrende
Baum mit leisem Gerüusch die Zweige dehnt — und wenn die Kinder vor der
Thür stehen und die schwellenden Wünsche in ihren Herzen aufbrechen zu heitz-
blühendem Verlangen — dann ist das Wintersonnenmärchen auf seinem Gipsel,
dann wirkt sie ihren höchsten Zauber, die heilige Dichtung, die die Menschen
„Weihnacht" nennen.

Es gibt nur wenige Dichtungen, die so schön sind. Eine heitzt „Ent-
schwondene Kindheit", eine andere „Der nächste Frühling". Weiß jemand
noch eine?

Runstwart
 
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