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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 13,1.1899-1900

DOI Heft:
Heft 9 (1. Februarheft 1900)
DOI Artikel:
Lublinski, Samuel: Humanität: ein Nachtrag zu den Goethetagen
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https://doi.org/10.11588/diglit.7959#0342

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und unbekümmerte, unerhört anschauliche, manchmal auch kampfestrotzige
Leben und Treiben des fränkischen Stammes. Der Spaziergang vor
dem Thor, der Ritter Götz mit der eifernen Hand, die Jugendgedichte
und die Naturschilderungen aus „Werther" sind aus heimischer Erde
emporgesprossen und von dem seinsten Hauch der Heimatslust rings um-
spielt und durchdrungen. Aber der „Werther" war zugleich ein
europäischer Zeitroman sener Tage und die Götz-Dichtung zum mindesten
ein Ereignis der gesamtdeutschen Literatur, wie ja auch Goethes Lyrik.
Und nun erst der Faust! Also schon in seinen Ansängen war Goethe
viel mehr, als nur eben der vollendetsteAusdruck des sränkischen Stammes.

Und dann, zwanzig Jahre später, kam die Höhenzeit: jene Tage,
allwo „Wilhelm Meister" und „Hermann und Dorothea" entstanden sind,
wo der erste Teil des „Faust" vollendet wurde und wo endlich, am Aus-
gang der ganzen Epoche, die „Wahlverwandtschaften" und die als an-
regungsreiches Fragment bedeutsame „Natürliche Tochter" diese eigent-
liche Schöpferblüte Goethes abschlossen. Das Bindeglied, welches zwischen
den Jugendtagen und diesem Gipfelpunkt vermittelte, bildeten jene beiden,
in Jtalien zur Vollendung gereisten Dichtungen „Tasso" und „Jphigenie".
Kaum dürste jemand wagen, hier noch von dem „Franken" Goethe zu
reden. „Hermann und Dorothea", vielleicht noch die srünkischste dieser
Dichtungen, trägt das nntike Hexametergewand und hat das weltge-
schichtliche Ereignis der französischen Revolution zum Hintergrund. Der
Roman „LÜilhelm Meister" sucht gleich ein ganzes Zeitalter auszuschöpsen,
und die „Wahloerwandschasten" behandeln ein tiesgründiges, gesellschast-
lich-sittliches Problem. Der sertige erste Teil des „Faust" aber gehört
schlechtweg zur Weltliteratur. Außerdem hat es nie an Versuchen ge-
sehlt, die beiden italienischen Dichtungen „Tasso" und „Jphigenie", mit
denen sich von einem ofsiziell-nationalen und auch partikularistischen
Standpunkt aus schlechterdings nichts ansangen läßt, kritisch zu ent-
werten und zur Seite zu schieben. Dagegen die spezifischen Goethe-
gemeinden erhoben gerade diese beiden Dichtungen immer wieder zu den
Sternen, und man kann getrost manchen zierlichen Goethephilologen in
Verdacht haben, daß ihn nur ein ganz heimlickes banges Schamgefühl
daran hindert, die „Jphigenie" weit über den „Faust" zu stellen. Denn
dieses Gedicht ist nach einem Ausdruck des Dichters selbst „verteufelt
human" und läßt Zugleich sür den Oberslächenblick den tiesen und un-
heimlichen Abgrund vermissen, aus dem sich Goethes Humanität that-
sächlich emporgerungen hat.

Möglich, daß die „Nationalen" den unnationalen Sinn Goethes
auf seine Humanität schieben. Ueber seinem Menschheits- und Kultur-
ideal hätte er, diese Rede vernimmt man ost, die eigene Nation oer-
gessen, und zuletzt wäre ihm die „Weltliteratur" wichtiger gewesen, als
das deutsche Schrifttum. Das „Reich" ist ja schließlich nur entstanden,
indem die Realpolitiker sich bemühten, dem neudeutschen Geschlecht jeden
„Humanitäts-Dusel", so lautete ja wohl der Ausdruck, gründlich auszu-
treiben. Das ist auch gelungen, und wir haben jetzt alle ein gewisses
Mißtrauen gegen ein Wort, welches im oorigen Zahrhundert aus den
Lippen der Auserwählten schwebte. Wir denken, wenn von Humanität
die Rede ist, leicht an VerzärLelung, krankhafte Rücksichtnahme, an
Lazäreth. Sehr wohl, der erste aber in Deutschland, der, lange uor
llunstwart

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