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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 13,1.1899-1900

DOI Heft:
Heft 12 (2. Märzheft 1900)
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Göhler, Georg: Musikgeschichte, [1]
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https://doi.org/10.11588/diglit.7959#0470

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nießen und uns freuen, wie schön das ist." Gut, aber dann sollte man
wenigstens zugeben, daß man durchaus keine „künstlerischen Ambitionen"
hat. Mindestens neun von zehnen aller Musikfreunde und ach, auch
Fachmusiker tappen in diesem unwürdigen Zustand ihr Lebelang selbst
an allen den Werken vorbei, die sie den Noten nach auswendig kennen.
Von der Verslachung des Urteils selbst über das Bekannteste, von der
Unfähigkeit, Kunstwerke innerlich zu erfassen, kann man sich kaum ein
Bild machen, das schlecht genug wäre.

Das würde anders sein, wenn man eine sichere Grundlage hätte,
auf der sich ausrecht und fest stehen ließe. Alle Kunsturteile hangen in
der Luft, so lange sie nicht den Boden der Wirklichkeit, das heißt
hier: der Geschichte, unter den Füßen haben. Denn auch in der
Kunst gelten die Gesetze der Entwicklung, auch in der Kunst ist das
Wort „Zufall" eine Gotteslästerung. Die immanenten Gesetze aber, nach
denen sich der ganze Verlaus regelt, sind nicht aus ein par Thatsachen
abzuziehen, sondern ergeben sich nur ganz allmählich aus der fort-
laufenden Betrachtung des Ganzen.

Und diese Art der Betrachtung hat endlich noch einen dritten
Vorteil: sie gibt auch den neuen Erscheinungen, der
Zukunstsmusik gegenüber den rechten Halt. Die
Rat- und Hülslosigkeit, in der nicht bloß die Dilettanten, sondern
fast die gesamte Kritik und ein großer Teil aller Fachmusiker sich
besindet, sobald ein Urteil über eine Novität verlangt wird, hat
ihren tiessten Grund darin, daß der Blick nicht durch historische
Studien geschult, daß das Urteil also nicht sachgemäß gebildet
ist. Wir müssen's alle machen, wie ein bekannter Geschichtsprofessor,
der eine Einsührung in das Verständnis der politischen und sozialen Zu-
stände des neuen deutschen Neichs ankündigte und seinen Zuhörern ein
großes Bild von den Zeiten des Tacitus ab entrollte. Jn der Musik ist die
Kenntnis der srüheren Perioden besonders deshalb wichtig, weil auch da
sast AÜes schon einmal dagewesen ist. Manches, was nun die Dumm-
heit als kühne Neuerung, ja als Verirrung bezeichnet, hat in einer
früheren Zeit schon einmal aus einer künstlerischen Höhe gestanden, die
jetzt noch gar nicht wieder erreicht ist. Manches, was jetzt als befreiende
That gepriesen wird, war srüher ganz selbstoerstündlich. Viele Dinge,
nach denen wir uns vergebens sehnen, waren damals billig wie das
tägliche Brot.

Nun soll aber nicht etwa das Zurückschrauben und Nachahmen an-
gehen — das wäre ein Unsinn, der sreilich bei oielen, die Musikgeschichte
trieben, schon die Folge gewesen ist. Jm Gegenteil: gerade durch die
Beobachtung der Kunstzustände vergangener Jahrhunderte wird sich immer
wieder zeigen, daß nur die Kunst echt und unsterblich ist, die im Boden
ihrer Zeit wurzelt und von den gleichzeitigen geistigen Strömungen
getragen und genährt wird. Auch das öffnet das Auge sür manche
Scheinkunst in unsrer Zeit. Da gibt sich vieles als neu und groß und
ist doch nur ein wenig mit Flitter aufgeputztes Jnventar aus irgend
einer alten Kammer. Und was echt ist in der neuen Kunst, auch das
ist erst dann ganz zu begreifen, wenn man seine Grundlagen kennt.
Das ist nun einmal nicht zu vermeiden, wenn sich's um Kunstprodukte
hoch entwickelter Kulturvölker handelt, und die sind töricht, die das

Aunstwart

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