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Monatshefte der kunstwissenschaftlichen Literatur — 2.1906

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Erstes Heft (Januar 1906)
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Justi, Ludwig: [Rezension von: Heinrich Wölfflin, Die Kunst Albrecht Dürers]
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https://doi.org/10.11588/diglit.50012#0010

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2

Monatshefte der kunstwissenschaftlichen Literatur.

Januar-Heft.

neueren Zeit sind aufgenommen, soweit es sich um
unanfechtbare Feststellungen handelt: der Fall
Wenzel vonOlmütz, die Nachweisung der konstruier-
ten Idealfiguren und Köpfe, die G-iehlowschen Er-
mittelungen. Was dagegen noch nicht sozusagen
durch Majoritätsbeschluss entschieden ist, bleibt
auch hier unentschieden. Die drei grösseren An-
merkungen beziehen sich auf höchst wichtige
Fragen der Jugendentwickelung, lassen sie jedoch
ungelöst. Für die Basler Arbeiten wird ein neuer
Begriff in unsere Wissenschaft eingeführt, der über
Berensons compagno- und amico-System noch
weit hinausgeht: ein unbekannter Meister, dem ein
bekannter Meister „über die Schulter sieht“. Das
hätte mindestens etwas genauer erläutert werden
müssen, es handelt sich doch durchaus nicht um
eine Bagatelle: ob diese sehr zahlreichen, höchst
interessanten Drucke und Zeichnungen von Dürer
sind oder nicht, das ist keineswegs so gleichgiltig,
wie Wölfflin S. 32 meint. Der Zusammenhang
Dürers mit Wolgemut, bei Thausing überschätzt,
wird seit der Widerlegung seiner W.-Hypothese
unterschätzt, auch bei Wölfflin: mit Unrecht.
Es bleibt daher das so ausserordentlich in-
teressante Bild von Dürers Jugendentwickelung
farbloser, als es nach unserem gegenwärtigen
Wissen sein könnte.
Was Wölfflin andererseits als tatsächlich neues
bringt, sind einige Einzelbeobachtungen, die gewiss
von Interesse sind, aber keine neuen Perspektiven
eröffnen, da sie sich an andere bereits bekannte
Erscheinungen anschliessen (die Aehnlichkeit des
Sebastian B 56 mit einem Sebastian von Cima,
bereits früher von Wölfflin mitgeteilt; Lionardos
Reitermonument als Vorbild für die Bewegung des
Pferdes von 1513; die Benutzung des Viator bei der
„Marter der 10 000“ von 1510; ausserdem noch
mehrere Kleinigkeiten).
Eine sehr einschneidende Neuerung hatte
Wölfflin beabsichtigt: die Ausscheidung gerade der
interessantesten Jugendgemälde; doch ist er vor
diesem schweren Irrtum noch in zwölfter Stunde
bewahrt worden. Indessen lag die Darstellung der
Jugendentwickelung offenbar schon fest, als der
Dresdner Altar und seine Verwandtschaft*) nun
doch noch als echt aufgenommen wurde: deshalb
steht das kostbare Gemälde nicht in der Haupt-

*) Das Frankfurter Exemplar der Fürlegerin
hat sich mir bei eingehender Prüfung als echt er-
wiesen, wenn auch vielfach übermalt. Uebrigens
ist es nicht zu verstehen, wie man es mit der
kalten und harten Augsburger Kopie in einem
Atem nennen kann.

linie*), sondern ist als Fremdes hineingeschoben,
„ein Rätsel“! — aber es ist falsch, sich eine Vor-
stellung aus einigen Werken oder selbst der Mehr-
zahl der Werke zu bilden und dann einzelnes her-
vorragende beiseite zu lassen, weil es nicht damit
zu stimmen scheint; man muss vielmehr an der
zusammenfassenden Vorstellung so lange arbeiten,
bis alle unzweifelhaft echten Werke davon um-
spannt werden. Da Dürers italienische Aspira-
tionen bei Wölfflin im Vordergrund des Interesses
stehen, ist das Zurückstellen dieses Gemäldes be-
sonders zu bedauern, welches doch das merkwür-
digste Dokument jener Aspirationen ist.
2. Für das eingehende Studium Dürers
d. h. zur einigermassen erschöpfenden Orientierung,
ist das Buch nicht bestimmt. Es kann sehr an-
regend wirken vor einem solchen Studium, oder
auch nachher, und in vieler Beziehung das Urteil
lenken und fördern — für das eingehende Studium,
wie gesagt, bleibt man nach wie vor auf Thausing
und die spätere recht umfangreiche Fachliteratur
angewiesen. Ein unvorbereiteter Leser dürfte
übrigens das Buch kaum verstehen.
Das Publikum, an das Wölfflin besonders ge-
dacht hat, sind wohl nicht die Kennei’ und
sonstigen Fachmenschen, sondern ein kleiner
Kreis kultivierter geistvoller Kunstfreunde, die
bisher mit Dürer nicht viel anzufangen wussten,
die den braven Thausing nicht lesen können und
noch weniger daran denken, die Fülle der neueren
Literatur durchzuarbeiten, die überhaupt ein Buch
über Kunst nicht durcharbeiten, sondern ge-
niessen wollen, sie werden Wölfflin ausserordentlich
dankbar sein.

*) Die Folgen des Wölfflinschen Vorstosses
werden wohl überhaupt noch für längere Zeit zu
bedauern sein: in der soeben erschienenen, sorg-
fältigen Arbeit von Heidrich über Dürers Madonnen
erhält das Dresdner Bild schlichten Abschied,
während es bei Wölfflin jetzt wenigstens zur Dis-
position gestellt bleibt. Die Fachgenossen ohne
Museumserfahrung scheinen sehr entsetzt zu sein
über die Konstatierung der Uebermalungen, auf
die im Interesse der Dürerschen Autorschaft mit
Nachdruck hingewiesen werden musste. Ich kann
nur wiederholen, was ich in meiner Abhandlung übei’
den Dresdner Altar S. 36 gesagt habe: „Das
Werk ist im Vergleich zu anderen alten Bildern,
gerade auch Dürerschen, vortrefflich erhalten . . .
Nur wurden bei der Aufnahme in die Galerie be-
stimmte schadhafte Stellen übermalt, das Erhaltene
jedoch geschont, nicht in Harmonie gesetzt mit
den Uebermalungen, wie das ja sonst leider oft
genug geschehen ist.“
 
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