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Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Hrsg.]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 26.1916

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Heft 3
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Röttger, Karl: Von des Menschen Einsamkeit
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https://doi.org/10.11588/diglit.26490#0110

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Von des Menschen Einsamkeit.
möchte, und das Wunder ist das Wunder, weil eine
Sehnsucht da ist, die es gern in die Erscheinung brachte.
* *
Wohl, es wächst der Mensch in der Einsamkeit. Und
so lieben die Menschen die Einsamkeit, wenn sie reif
und weise werden. Denn sie wissen dann, alles, was sie
sind und wurden, das verdanken sie ihr. All ihr Eigenes
und Selbständiges. Und all ihr Frommes. Und all
ihr Gutes. Aber auch all ihr Böses. — Das aber kann
man nicht verneinen, was einen gesäugt und groß ge-
macht hat. — Und wie ein Mensch nicht die Mutter
verleugnen darf, die ihn geboren und gesäugt hat (es
sei denn, daß er aus allem Menschsein wieder in die
unterste Hölle fallen wolle), so darf auch niemand,
der wissend wurde, die Einsamkeit verleugnen. Wie er
auch an ihr leide. Denn die Einsamkeit ist nicht nur ein
Glück in den Stunden oder Minuten, da wir schaffend
sind oder wachsend sind — sondern sie ist auch ein Schmerz
und eine schwärende Wunde in den Stunden, da wir unser
selbst los und ledig sein möchten, da wir miteinander
und ineinander sein möchten — in und mit den andern —
und finden da die Türen verschlossen und können in keiner
Seele eintreten und stehen auf einmal frierend im Feld ...
Siehe, da ist Nacht; es sind viele Fenster ringsum und
sie leuchten; ein Licht scheint aus jedem Haus; aber
eintreten können wir nicht.
Die da noch jung an Herzen sind, die reden durchs
Glas der Scheiben und der Türen, und durch die Spalte
mit den Menschen und freuen sich noch, denn sie nennen
es Gemeinsamkeit. Die aber wissend wurden, gehn ein
wenig beiseite und hocken unter einen: tröpfelnden
Strauch oder Baum und sinnen dem Rätsel nach; und
wenn sie fromm sind, fangen sie an, Worte vor sich hinzu-
sprechen und siehe, es wird ein Gesang. Der Gesang
aber trägt den Traum empor, hoch, hoch und siehe,
da beg nut ein Stern am Himmel, der ehe nicht da war;
und der Blick des Einsamen geht ihm nach und da fällt
ihm ein, daß einst ein Lied war von Gott im Himmel
— und fängt vielleicht an, zum Schluß ein Kindergebet
zu sprechen. §
*
Aber tiefer noch geht die Kurve des Leids und der
Einsamkeit. Höher noch gehn die Wellen der Bedrängnis.
Bis an den Hals des Menschen; bis zum Ertrinken ....
Bis Christ herzutritt — und hebt die Hand und spricht:
Siehe, da bin ich!.... Und da wissen wir, Er hat es alles
zuvor gelebt. Bis an den Hals, bis zum Ertrinken.
Was rettet da den Menschen? Ein Stillewerden ....
Ein Stillewerden .... Wer es gewinnen kann, der ist
gerettet.
Noch aber glänzt am Himmel der Stern, welcher ein
Traum war, und von der Erde aufstieg. Und der ein
Traum ist, weil er gern wahr werden möchte. Noch
singt das Lied von der Treue, die doch ein Wahn ist,
weil noch Menschen sind, die sie ersehnen.
Denn da ist niemand, der nicht teil hätte an der
Untreue. Es läßt eins vom andern. Ein jedes vom
Vater und von der Mutter. Und kein Vater oder keine
Mutter ist, die da gewillt wären, dem Kinde, dem Sohn
oder der Tochter so zu folgen, wie sie, die Kinder, wohl
möchten, wenn sie anders möchten als Vater und

Mutter. Noch sind die Mütter bereit, zu sagen zu Tochter
und Sohn, was habe ich mit dir zu schaffen! Noch sind
die Kinder bereit, zu vergessen, daß sie Erben sind. Noch
verleugnet der Mann die Frau und die Frau den Mann,
— wenn es so sich fügen sollte....
Was ist der Mensch? Ein Tier? Ein Ungeheuer?
Ein schwermütiges Rätsel. Vielleicht ist keine Schuld
bei ihm; als daß er dem allen zuviel nachsinne.
*
Du meinst, es sei manchmal Liebe in der Welt ge-
wesen, und manchmal große Liebe. Du mußt nicht meinen,
ich vergäße des, wenn ich im Herbst herbstlich rede.
Noch, daß ich vergäße, daß Taten waren und Opfer
waren .... Taten, die groß waren, und Opfer, die dem
andern gebracht wurden. Auch war einer in der Welt,
der aus Gott gekommen war und bei den Menschen war
und wieder zu Gott ging. Ich habe dessen nicht vergessen,
wenn ich im Herbst herbstlich rede ....
Denn ich weiß auch das andere. Und es ist vielleicht
so: wie sollte die Welt anders sein, denn weltlich. Und
der Mensch anders, denn menschlich .... Aber es ahnt
mir, es sei noch etwas verborgen, das unsichtbar noch
sei und warte, in die Erscheinung zu treten .... Der
Mensch lebt noch dem Leibe nach und wird es immer tun.
Aber der Eine wußte den Weg, da der Mensch — Geist
wird; da auch sein Leib Geist wird. Aber nur schwer will
der Leib in den Geist. Habe ich nicht gesagt, daß der
Mann gewillt sein wird, das Weib zu verleugnen, und
das Weib, den Mann zu verleugnen? Und nun höre mir
wohl zu, wenn ich sage: sie werden beide auch gewillt
sein, sich selber zu verleugnen, eins vor dem andern —
wenn es gerade sein sollte, daß es ihnen so recht erschiene.
— Und wenn du meinst, daß Furchtbareres über den
Menschen nicht gesagt sei, noch gesagt werden könne,
so wissen wir doch, daß über allem zufälligen Leben
eines steht: die Wahrheit. Und wenn du zweifelnd fragst,
was die Wahrheit sei, so kann ich nur sagen: sie sei eben
wiederum das Leben selber; und schließe beides ein:
Lüge und Wahrheit! Irgendwo ist der Punkt, da der
Widerspruch aufhört. Irgendwo beginnt die große
Resignation. Irgendwo können wir gegen kein Schicksal
an; irgendwo beginnt Stille, große, namenlose Stille.
Irgendwo können wir nichts anderes tun, als Ja und
Amen sagen — zu allem.
Aber es soll niemand sagen, ich predige. Ich rede
vor mich hin in einen grauen Tag.
Noch sind wir in Wirrscü, noch sind wir in Jrrnis.
Und träumen nur von fernem Licht, das der lautere
reine Geist ist.
Was kann uns retten aus Jrrnis und Wirrsal?
Vielleicht die Stimme des Christ. — Ja, nur die Stimme
des Christ.
Müssen wir zuvor all unser Menschsein leben, alles
Gute und Böse? Ich weiß es nicht. Ich träume vor
mich!so hin und denke. Und träume.
-i- *
*
Es sind die grauen Tage des Advent. Leise beginnt
ein Lied. Leise beginnt ein Licht. Ein Glockenton und
ein Duft geht durch alte Kleinstadtstraßen.
Immer ist noch der Traum wach von Erfüllung und
Klarheit, von Treue und Liebe. Immer aber auch steht

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