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Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Hrsg.]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 26.1916

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Heft 4
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https://doi.org/10.11588/diglit.26490#0156

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neue kollektivistische Erleben auch in kleinere Talente hineingreift,
ja wie dadurch erst ihre tiefste Kraft erweckt und aufgerufen wird.
Von Ina Seidel sind bisher — bei Egon Fleischet 8: Co. — zwei
lyrische Bücher erschienen: „Gedichte" 1914, „Neben der Trommel
her" 1915. Die gründende und leitende Empfindung in beiden
Büchern ist das Erleben allen organischen Wachstums: Mutter-
schaft in der Natur und eigene Mutterschaft; die Bildung des
Regens wird ihr zu dem Mythlein vom Schnattermann, das
Wachstum der Felsen zu den Gesichten vom Krautersammler; sie
spürt das andere Leben und betet: daß das Gras da nicht ver-
dorre, wo sie lag in Mittagsglut. Sie spürt die Naturlosigkeit der
Städte, und ihre eigene Entfremdung von der Natur verdichtet
sich ihr zur Geschichte von Schmerzensreich, der Genoveva Sohn,
der sich in den Wald zurücksehnt von den Menschen zu den Rehen
und Wurzeln.
Dies ländliche Gefühl nun wird ihr zu einem Landgefühl:
„Land" hat bei ihr den doppelten Sinn von Ackerland und von
Stätte des Volkes. Sie hat die Fähigkeit, Volk zu spüren, sie kann
„Land" sagen, ohne daß ihr das Wort im Munde zur Phrase auf-
quillt. Ihr organisches Gefühl wird gleichsam auch politisch or-
ganisch, und so gelingt ihr der starke Gesang von Deutschland der
Inselveste, die gelassen ragt von atmender Mauer umschlossen;
Felder tragen und Herden strotzen, und droben im uralten Säulen-
saal stehen die Werke der Schöpfer gereiht, und es singt eine Orgel
sich selbst.
Und ihr Erdegefühl wächst zu einem Erdballgefühl. Das
vegetative wandelt sich zu einem geographischen, biologischen,
unmittelbar wird das irdische Fühlen human und kosmisch zugleich.
Da ist ein klagender Anruf:
„Mußt du nicht trauern, Erde, und erkranken,
kannst du die jungen Saaten denn noch nähren?
Wirst du nicht dumpf mit angstgepreßten Flanken
uns Hungersteine statt des Korns gebären?",
ein Anruf des Vertrauens an ihre Heilkraft und Heiligkeit, „die du
alle Grenzen überblühst", und als ob die Dichterin in umfassendem
Fühlen die Arme dehnt, umfangend die Weite des Erdrandes, so
erdehnen sich ihre Verse zu horizontumrollenden Rhythmen in den
Gesängen „vom kommenden Helden".
„Erde, in Wolken hangend, Wolken aus Blut und aus Tränen,
trübe purpurn geballt — Erde, wann birst dir dein Traum?
Gellt nicht die Dämmerung längst von tausend schmetternden
Hähnen,
Stößt nicht ein Frühwind barsch in den entblätterten Baum?"
Sie ruft den Helden an, der kommen wird:
„Reiß uns an dich, und wir sind dein wie geerntete Frucht"; —
— so heißt es in der Offenbarung Johannis: „Und die Erde ward
eingeerntet"; —-
„Teile Feuer und Geist aus mit gewaltigen Händen" —
ein Wort, gemahnend an die pfingstliche Aussendung der Apostel —;
in dem zweiten Gesänge aber ruft Zweifel und Frage: daß vielleicht
die Stunde der großen Gesendeten für immer dahin sei und ihr
Opfer und ihre Werke den großen Gemeinschaften zufallen, da
nicht ein himmlischer Irdischer für alle stirbt, sondern viele für viele.
Gefühl für Land, Volk, Erde ist dieser Dichterin eins; in
Stufen gleichsam baut sich ihr Gefühl, aber in jeder Schicht ist
Religion. Wurzel der Pflanze ist von Gott; sie selbst wurzelt
pflanzengleich im angeborenen Lande; in der Erde ist Gott:
„Wenn Gott ihr fern ist," betet sie „zur Erde", „ans Herz des
Waldes" legt sie ihre Hände, so mächtig ist die Erde,
„Daß ich sie ganz mit diesen Händen fasse,
und daß ich Jesus Ähren, Städte, Pferde,
Ja Afrika und Indien ganz ergreife,
wenn ich den Boden mit den Füßen streife,
wenn ich mich schmiege in mein Anteil Erde."
Unmittelbar aus dem nationalen und dem großen irdischen
Gefühl keimt hier Religion. Diese Dichterin fühlt sich nicht frei
und schweifend, sondern verwurzelt und gebunden. „Religion"
aber heißt Bindung. Und so ründet diese kurze Betrachtung eines
kräftigen und symptomatisch gearteten Talents in den Ausgang
zurück: noch ganz vage, aber klaren Augen erschaubar, dämmert ein

neuer Glaube, diesseitig verwurzelt steigend zu jenseitigen Kron-
wipfeln. Wo Gefühl der Gesamtheit ist, da wird auch Religion.
!P95) Ernst Lissauer.
er Dichter des Preußentums.
Im Verlag I. G. Cotta erscheint (im zweiten bis fünften Tau-
send) soeben eine kleine Schrift von Map Fischer, die Heinrich von
Kleist mit Geschick und Kenntnis als den Dichter des Preußen-
tums darstellt. „Wir, denen der gewaltigste der Kriege hoffnungs-
volle Jugend schon vor der Entfaltung ihrer Kräfte raubt, empfinden
tief, daß dies edle deutsche Blut die Gefilde Frankreichs, die Fels-
täler ferner Balkanländer und die weite russische Erde gefärbt hat
nicht zu dem Behuf, daß deutscher Handel und deutscher Unter-
nehmungsgeist sich ungehemmter durchsetzen könne in der Welt,
sondern auf daß aus diesem Kampfe wider den Haß und Neid
der andern Nationen die deutsche Volkspersönlichkeit vertieft und
gestählt hervorgehen möge. Denn noch lastet auf unserer Zeit
unerfüllt das Gebot, den wundervollen Organismus unseres
Staats innerlich zu verschmelzen mit der identischen Sehnsucht
des deutschen Geistes." Mit diesen beiden Sätzen, die vor dem
Schlußsatz der kleinen Schrift stehen, ist ihr Stil und ihre Tendenz
gegeben. Sie will weniger literarhistorisch als kulturell genommen
sein und an dem Beispiel unseres größten tragischen Dichters
die Aufgaben des deutschen Geistes im Staat zeigen. „Die kul-
turellen Kräfte des deutschen Volkes haben sich auch
im letzten Jahrhundert im wesentlichen nur neben
dem Staate oder gar trotz des Staates durchzusetzen
vermocht", das ist eine Erkenntnis, aus der sich die Grundforde-
rung für die deutsche Zukunft von selber ergibt: entweder wir
werden nach dem Krieg eine Kulturgemeinschaft, die sich für ihr
inneres Leben ebenso einig und stark einsetzt wie jetzt in der Ver-
teidigung des äußeren Daseins, oder wir haben das Ungeheure
sinnlos erfahren. Wie dies das Beispiel Kleists so erschütternd
predigt, handelt es sich durchaus nicht um die sogenannte Pflege
der Kunst durch den Staat, die an sich einen Lupus darstellt, sondern
um einen neuen Zustand der Volksgemeinschaft, der den Funktionen
des Staates eine edlere Rolle als gegenwärtig zuweist. Worin
liegt schließlich das beschämende Erlebnis der Preußen, daß sie ihr
nationalstes Drama, eben den „Prinzen von Homburg", erst zehn
Jahre nach dem Selbstmord ihres größten Dichters aus dem Nach-
laß erhielten, anders als darin, daß seine Gebildeten weder fähig
noch bereit waren, das dichterische Sinnbild preußischen Wesens
aufzunehmen? Hier läge die Funktion des Staates, da für das Edle
cinzutreten, wo die Masse es noch nicht ahnt: Gerade, daß uns
diese einfache Forderung so unerfüllbar scheint, darin wird deut-
lich, wie weit entfernt wir noch von einer wirklichen Volksgemein-
schaft sind, deren Walten wir doch alle im Ausbruch dieses Krieges
als möglich fühlten. Heute ist der Staat in künstlerischen Dingen
kaum mehr als der Funktionär der Masse, sein sogenanntes Kultus-
ministerium ist alles andere eher, als ein Organ, das — soweit
nicht der Staatsgedanke selber in Frage steht — das Edle gegen
das Bedürfnis der Masse zu erkennen und zu stützen vermöchte;
und doch sollte das in einem wirklichen Organismus so sein.
Es kann weder in der Absicht dieser Glosse liegen, noch ist es
etwa der Sinn der besprochenen Schrift, in dieser Richtung ein
Programm aufzurollen; ihr Vorzug liegt allein darin, daß sie an
einem so hohen Beispiel zeigt, wie tief der Abgrund zwischen dem
Hüben des Wollens und dem Drüben des Wirkens in unserem
geistigen und künstlerischen Leben befestigt ist. Diesem Vorzug
zuliebe sei das kleine Buch dringend empfohlen, das solche Worte
wie das nachstehende nicht aus der sogenannten „Freude am
Negieren", sondern aus gutem Willen findet: „Es ist ein unaus-
löschlicher Schandfleck in der in dieser Beziehung arg belasteten
Geschichte unseres Volks, daß es seinen treuesten Sohn, einen der
ragendsten Künstler deutschen Blutes, zu der häßlichen und un-
würdigen Tätigkeit des Tagesschreibers erniedrigt hat. Wir Deutschen
haben sehr wenig Anlaß, uns als das Volk der Dichter und Denker
in die Brust zu werfen, solange bei uns die breite Mittelmäßigkeit
obenauf schwimmt.und die Stimmen unserer großen geistigen
Persönlichkeiten unter den Zeitgenossen keinen Widerhall finden."


Verantwortlich: Wilhelm Schäfer. — Druck und Verlag: A. Bagel, Düsseldorf. — Kunstdruckpapier: I. W. Zanders, B.-Gladbach.
Gedruckt mit Farben der CH. Hostmann - Steinbergschen Farbenfabriken, G. m. b. H., Celle (Hannover).
Alle redaktionellen Sendungen sind an den Herausgeber Wilhelm Schäfer in Vallendar a. Rh. erbeten.
Für unverlangte Manuskripte und Rezensionsexemplare wird keine Verpflichtung übernommen. Rückporto ist beizulegen.
 
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