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Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Hrsg.]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 26.1916

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Heft 5
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Münzel, Gustav: Der Gang
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https://doi.org/10.11588/diglit.26490#0180

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Der Gang.
auf der Treppe oder im Gange stehen. Sie war klein
und verschrumpft, die wässerig stieren Augen quollen
vor, das erdfarbene Gesicht war gedunsen und von zahl-
losen Falten durchfurcht und zerschnitten. Ihr Haar war
so grau wie das alte Satinkleid und die Haube. Ein
Haubenband von verschossenem Lila machte die Gestalt
noch fahler und dürftiger. So stand sie oder schlürfte
auf ihren Filzschuhen schweratmend umher, fast nicht
mehr einem Wesen von Fleisch und Blut gleichend,
welcher Eindruck den Verwalter bestimmt hatte, von der
Neunundachtzigjährigen als dem „Schatten" zu reden.
Die beiden Zimmernachbarinnen Fräulein Pauline
und Frau Bachmeier waren Freundinnen. Beinahe
gleichaltrig mit Fräulein Pauline, Mitte der Siebzig
stehend, sorgte Frau Bachmeier dafür, daß diese, eine
alte Lehrerin mit schwachen Augen, nicht der gehörigen
Ordnung ermangelte, und das alte Fräulein war ihr
dankbar dafür. Der Haushalt, den Frau Bachmcier
früher geführt hatte, gab das große Muster ab für die
Regelung der kleineren Verhältnisse, in denen sie gegen-
wärtig lebten. Das weiche und hilfsbedürftige Fräulein
folgte mit Bewunderung den Schilderungen von Frau
Bachmeier, aus denen hervorging, welcher Umsicht
und Tatkraft es bedurfte, einen wohleingerichtctcn
Haushalt zu führen und aufrechtzuerhalten. Und in dem
Verhältnis der beiden trat es kaum merkbar hervor,
daß Herr Bachmeier mit dem Titel eines Rechnungs-
rates versehen, die bürgerliche Gesellschaft verlassen und
das Irdische gesegnet hatte. Außerdem war Frau Bach-
meier mit Ernst und Nachdruck darauf bedacht, daß die
Stellung von Frau Wibarius, der sie willig die Ehren-
rechte der Ältesten zubilligte, nicht zu einer übergeord-
neten Gewalt sich steigerte.
Das letzte -Zimmer war seit kurzem leer, seine Be-
wohnerin hatte man hinausgetragcn, und deren Fort-
gang hatte keine große Lücke hinterlassen. Unter Ver-
meidung jeden Aufsehens hatte der Tod ihrem matten
Lebenslicht das Löschhütlein aufgesetzt, still und unbe-
merkt, wie sie gelebt hatte, war sie von dannen gegangen.
Die Tage der Frauen schlürften vorher wie nachher
dahin, immer in dem gleichen, gebrechlichen Schritt.
In der schweren, stehenden Luft des Hauses atmeten
diese Wesen, mumienhaft, nur mehr Schalen des Lebens.
Keine Hoffnung hielt sie mehr, und dennoch blieben sie.
Und ohne Kraft zu Wünschen, wünschten sie nur das
Gefäß alter Wünsche, das Leben, dieses schon halb er-
storbene Leben, weiter zu leben. Sie blickten nicht weiter
hinaus als auf einen Tag, seine Bedürfnisse beschäftigten
sie, und jeder neue war gewonnenes Land.
Eine stärkere Bewegung kam in das Leben der Be-
wohnerinnen des Ganges, als das leere Zimmer wieder
besetzt wurde. Es galt, den neuen Ankömmling kennen
zu lernen und ihm, je nach seiner Würdigkeit, mit liebe-
voller Nachsicht oder mit Strenge entgegenzutretcn,
jeden Versuch eines Übergriffs in fremde Rechte von
vornherein abzuweisen und feste Grenzen der Befugnisse
aufzurichten. Alle Türen an dem Gange standen auf,
als der bescheidene Hausrat der neuen Bewohnerin
hereingebracht wurde, und Fräulein Johanna ließ es
sich nicht nehmen, trotzdem der Tag kalt und unfreundlich
war, mit den anderen auf dem Gange auszuharrcn,

bis alle Möbelstücke, die vorbeigetragen wurden, besich-
tigt, geprüft und aus ihnen Schlüsse auf die Wesensart
ihrer Besitzerin gezogen worden waren. Und das war
eine sehr eingehende und sachverständige Kritik. Hatte
doch Frau Bachmeier einmal beim Einzug einer früheren
Bewohnerin, darin ganz dem berühmten Naturforscher
Euvier gleichend, dem ein einziger Knochen genügt hatte,
um daraus das ganze Knochengerüst und die Gestalt
des Tieres, dem dieser Knochen gehört hatte, richtig zu
erkennen, beim Anblick eines einzigen Gerätes, eines
Nachtkästchens, ein völlig sicheres und umfassendes
Urteil über die moralischen und haushälterischen Eigen-
schaften der Besitzerin gefällt, das sie in das eine Wort
„eine Schlamp" zusammenfaßte. Dieses war ein Urteil,
das später auf größerer Erfahrungsgrundlage vollauf be-
stätigt wurde und allgemeine Zustimmung fand. In
diesem Falle aber war zu einem derartigen abschätzigen
Urteil kein Anlaß. Nach gewissenhafter Prüfung, unter
Benutzung aller gegebenen Merkmale, wurde festgestellt,
daß die Möbel ebenso sichtlich die Spuren reichlicher
Benutzung und ziemlichen Alters wie die Tätigkeit einer
diesen Einflüssen entgegenwirkenden fleißigen Hand auf-
wiesen.
Auch war die Wachsamkeit der Frauen gegen Über-
griffe und Rechtsüberschreitungen der Zugezogenen
durchaus überflüssig, denn diese hielt sich ganz in ihrem
Zimmer und machte unter bitterem Herzeleid und vielen
Tränen die Zeit durch, wo zum ersten Male die Hände,
wenn sie etwas Geliebtes fassen wollen, ins Leere fahren.
So wurde denn von den Frauen der näheren Bekannt-
schaft der neuen Genossin zwar mit der gebührenden Zu-
rückhaltung, aber doch mit wohlwollender Ruhe ent-
gegengesehen.
Inzwischen saß das alte Fräulein Anna Lantenbach,
ein kleines, verhärmtes Persönchen, in ihrem Zimmer
unter ihren Habseligkeiten und hatte nicht die Stärke,
das Wenige in Ordnung zu bringen. Ihr Leben lang
hatte sie mit dem jetzt verstorbenen Bruder zusammen-
gelebt und, an den männlichen Willen sich anlehnend,
dem Unverheirateten die bescheidene Wirtschaft geführt.
Aber durch den Schlag, der den Baum gefällt hatte,
wurde auch die Ranke mitgerissen. Jedes Stück des
Hausrates, das sie in die Hände nahm, erinnerte sie an
den Toten. Der Anblick der Papiere, die der Bruder,
ein stiller Gelehrter, hinterlassen hatte, und die geordnet
werden mußten und in Stößen Herumlagen, machte sie
nur Hilflos weinen.
Da war es nun eine wohltätige Hilfe für sie, daß die
Freunde des Toten kamen und diese Geschäfte besorgten.
Einer war dabei, ein junger Maler, der bis vor kurzem
den fördernden Umgang dieses väterlichen Freundes
genossen hatte und ihm dafür dankbare Anhänglichkeit
bewahrte.
Das war ein lustiger Mann. Kain er die Treppe
herauf, so krachten bei seinen schnellen Schritten die alten
Stufen. Wenn er dann in das Zimmer trat und mit dem
alten Fräulein redete, so konnte er dabei lachen, daß ihm
die Haare schlitterten, und sein Lachen war wie ein
warmer Regen im Frühjahr. Hatte das Fräulein bei
seinen Vorschlägen Bedenken und Einwände, so hob er
nur den Arm und streckte ihn mit einem raschen Ruck

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