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Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Hrsg.]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 26.1916

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Heft 5
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Braun, Felix: In Goethes Dramen und Werken
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https://doi.org/10.11588/diglit.26490#0185

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§u Goethes Dramen in Äersen.

läßt. Ja, sie werden selbst als Fremdes im schönen
Neuen empfunden, so, wenn Iphigenie ihre Herkunft
und die Geschicke des Hauses berichtet, mit dem ihre Seele
kaum noch einen Hauch gemein hat. Mit Ausnahme
Tassos sind alle Trager dieser Dramen Leidende (epische
Helden), und im gewissen Sinne ist es Tasso auch. Zwar
ruft seine Art, zu sein, die Tragödie hervor, aber in Wahr-
heit ist es ein Dämon, der ihn regiert, und sein Wille
hängt ab von einem Kranz und einein Lächeln. Immer
wieder wird Erzählung aus dem Geschehen, ja eine
merkwürdige Umkehrung von Dramatischen! und Epi-
schem ist zu gewahren: das Fördernde wird zumeist
als schon vollzogen gemeldet, das Ruhevolle lebendig
dargestellt. Eugeniens Entführung erfolgt unsichtbar: der
dritte Akt, der sie bringen sollte, gibt nichts als den Bericht
an den Herzog, und da er steigern muß, so steigert er dies
epische Moment, indem er das Motiv wiederholt, dem
Schmerz des Vaters den Sekretär und dann die mächtigere
Figur des Weltgeistlichen entgegenhaltend. (Es fällt auf,
daß im dritten Akt des „Tasso" sowohl als der „Natür-
lichen Tochter" die Hauptgestalt abwesend bleibt, ein
stärkster Beweis für die epische Grundrichtung des
Dichters.) Auch in „Iphigenie" vollstreckt sich das Ent-
wickelnde hinter der Szene, die zumeist in der Ruhe
der Gespräche verharrt und selbst die Raserei Orests
nur bis zu einer höchsten Steigerung gestattet. Es bleibt
der Eindruck, daß die Konzeption des schauenden Menschen
Goethe mit dem schönen Bilde des ersten Aktes erschöpft
war und daß er, verpflichtet, weiter zu bauen, aus dem
Vorschwebenden die bewegenden Kräfte gewinnen mußte.
Das Szenar des „Nausikaa"-Fragments schließt manches
auf. Es gibt fast nur die Namen der sprechenden Personen
an und verrät das Dürftigste über die Handlung. Aller-
dings, wie wäre auch etwas den ersten zwei Szenen
des Ballspieles und des Hervortretens des Ulysses
gleichgekommen — es sei denn die geplante Szene der
Wäsche am Flusse (wieder das Idyllische!) — an zauber-
haftem Leben und Erscheinen!
Mit Bewußtheit mußte das dramatische Element
eingefügt werden. Goethe greift die Stichomythie auf,
um stärkere Bewegtheit in Willen und Gegenwillen aus-
zudrücken. Aber das Gewaltsame ist auch nur von ge-
waltsamer Kraft. Die Katarakte der einzeiligen heftigen
Wechselreden, die dennoch immer ein stilles Licht tragen,
stürzen zeitabwärts, wieder öffnet sich ein breites,
leuchtendes Tal, die großen Reden fließen beruhigter
und spiegelnd dahin mit „ruhenden Gestirnen", und was
sich wandeln sollte, wird verschwiegen, bis der nächste
Akt es ansagt, daß es sich vollzogen hat, wie das Wachs-
tum oder das Welken einer Pflanze über Nacht, an-
scheinend schicksallos, von Mächten, über die wir nicht
gebieten, die wir kaum erkennen dürfen.
Das Wunderbare aber, das Anziehende, Entzückende,
Nieauszuschöpfende, ist der Blick und die Stimme. Der
Blick, der auf Iphigenie fällt, sie aus der Sage hebt,
sie wandelt und unendlich höher entrückt, als es Artemis
vermochte. — Was gilt noch alles Grauenvolle des
Atridengeschlechtes neben dieser Sehnsucht am Meere,
dieser schwesterlichen Liebe, dieser Treue zu der Göttin,
diesem stillen Gegenüberstehen einem dunklen, ungelieb-
ten, doch verehrten Manne? Alle Strophen aus dem

„Befreiten Jerusalem" verblassen neben dieses neuen
Tasso Versen, und welch eine Frau aus den erlauchten
Häusern von Este, Gonzaga, Sforza überleuchtete den
goldenen Glanz der beiden Leonoren vor den Hermen
im Garten? Dieses Neue ist nur wenig, aber in diesem
Wenigen liegt aller Traum der Welt. Es ist — in jedem
dieser Dramen, außer „Elpenor" — eine unsägliche
leise Art von Neigung (Liebe wäre schon ein zu hartes
Wort dafür) — Neigung lenkt Thoas zu Iphigenie,
und Iphigenie bleibt nicht ganz ohne Erwiderung, ohne
Geneigtheit, wie auch die Prinzessin sich, ihr selbst un-
merklich, Tasso hinneigt. Unendlich rührend ist die
männliche Darbringung eines edlen Herzens in der
„Natürlichen Tochter": der Gerichtsrat bietet Eugenie
sein Leben als Zuflucht an, und sie, indem sie seine Hand
ergreift, neigt sich, so fern sie ihm bleiben muß und will,
ihm freundlich zu. Allein der Wille scheint uns nicht zu fest
gegründet und gern denkt sichs aus, wie diese Neigung
durch die Freundschaft sich vertiefen mag. „Vermagst
du, zu versprechen, mich als Bruder mit reiner Neigung
zu empfangen?" fragt sie, ehe sie sich ihm vertraut.
Er entgegnet:
Zu tragen glaub ich alles, nur das eine,
dich zu verlieren, da ich dich gefunden,
erscheint mir unerträglich. Dich zu sehen,
dir nah zu sein, für dich zu leben, wäre
mein einzig höchstes Glück.
Ihr alles gewährend, in der ganzen Größe des Ent-
sagens, öffnet er das lauterste Herz:
Uneigennützige Liebe kann der Mund
mit Frechheit oft beteuern, wenn int Herzen
der Selbstsucht Ungeheuer lauschend grinst.
Die Tat allein beweist der Liebe Kraft.
Indem ich dich gewinne, soll ich allem
entsagen, deinem Blick sogar. Ich will's.
Wie du zum ersten Male mir erschienen,
erscheinst du bleibend mir, ein Gegenstand
der Neigung, der Verehrung, deinetwillen
wünsch ich zu leben. Du gebietest mir.
Und wenn der Priester sich sein Leben lang
der unsichtbaren Gottheit niederbeugt,
die im beglückten Augenblick vor ihm
als höchstes Musterbild vorüberging,
so soll von deinem Dienste mich fortan,
wie du dich auch verhülltest, nichts zerstreun.
Ähnlich war es mit der „Nausikaa" auch geplant:
Neigung und Gegenneigung, jedoch Entsagung zum Ende.
Entsagung ist vielleicht das tiefste Motiv der Dichtung
Goethes. Wie von himmlischer Welt her glänzt es in
allen hohen Werken auf: im „Werther", in den „Wahl-
verwandtschaften", im „Clavigo", „Wilhelm Meister",
„Faust", in den schönsten der Gedichte und, immer wieder,
in der Lebensgeschichte.
So steigen wir denn wie Iphigenie und Ulysses
wieder zu Schiffe. Die fünf seligen Inseln versinken,
aber der ewige Gesang umhallt uns lange noch. Jene
zwei unsterblichen Verszeilen, die dem gegen Palermo
heranfahrenden Goethe ein göttlicher Augenblick aus der
Seele gelöst hatte und die man zum „Nausikaa"-Frag-
ment gedacht glaubt, mögen auch unser Gefühl aussagen
helfen:
Ein weißer Glanz ruht über Land und Meer
und duftend schwebt der Äther ohne Wolken. f618s!


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