Die Stadt.
O, er fühlte schon, wie ihn das müde machte, so daß
es qualvoll dumpf gegen seine Hirnschale stieß und empor-
wollte, hinaus, ins Freie. Aber er durfte sich nicht unter-
kriegen lassen, nur nicht klein beigeben, nur dastehen,
wenn auch zerknittert und zergerbt, dann würde sich
alles schon von selber machen und finden. Ja, immer
zusehen, wie ein Haus gebaut wird, weil doch hier ein
Anfang ist. Etwas wie eine Zeugung. Und weil doch
dann das mitentstehen, mitwerden muß, was so ein
fertiges Haus stumm und groß macht. Jrgendeinmal
mußte doch irgendwer das ins Werk legen. Aber er sah
nichts, konnte nichts sehen, sah wie der Ziegel empor-
wanderte, Stock um Stock, mächtige Eisenschiencn an
Ketten emporgewunden wurden und wie der Mörtel
lustig in seinem Schaff nach oben tanzte. Und Arbeiter
und Arbeiter und Holz und Holz und Baume so groß,
wie sie nie ein Mensch gesehen oder geträumt hat.
Manchmal dachte er dann noch wie die Ameisen, sie
bauen und richten Zimmer und Gelaß her für einen,
von dem sie nicht wissen, wer er ist, ob er kommt und
wann er kommt und wie lange er verweilen wird.
Wunderliche Welt, sagte er, wie die Ameisen. Die einen
bauen, die andern wohnen; die bauen für andere, von
denen sie nichts wissen, und die wohnen, als hätten sie
sich's angeschafft, als wäre es für sie gebaut. Nur die
Häuser bleiben still, starr, stumm, schweigend. Es ist, als
hätten sie sich selbst gebaut und den Menschen nur er-
laubt, ihnen Kleider zu machen und anzulegen. Wunder-
lich, wunderlich, pfiff Herr Kaspar vor sich hin, und ver-
schwand im Nebel.
Aber er blieb dann wieder stehen, wenn er irgendwo
zerfetzte Mauern sah, wo ein Zimmer war, das kein Dach
mehr hatte und wie im Theater nur drei Wände zeigte, wo
die Türen und Fenster leere Löcher waren, wo die Ta-
peten in schmalen dünnen Streifen schon die Mauer
sehen ließen. Und oben waren die Ziegel, stiegen an
und fielen, unordentlich, wirr und zerhackt. Unten aber
standen Wagen mit schweißigen Pferden, und von oben
kamen bretterns Trichter, bretterns gedeckte Gange
gelaufen mitten hinein in das Innere der Wagen. Und
von oben kollerte durch Trichter und Gang was, kollerte
immer wieder und wieder, Wagen um Wagen kam und
ging und immer noch kollerte und rollte es von oben her
wie Lawine und Schutt, und der Staub ging wie ein
Nebel um und hoch. Kaspar klopfte dann das Herz und
er blickte nach oben und auf die Wagen und er fühlte
wieder die Macht, die diese ganze große Stadt zusammen-
hielt, die wußte, warum dies Haus aufgebaut und dies
niedergerissen wurde. Überall war diese Macht unsicht-
bar und dennoch wieder sichtbar. Und dies fühlte er, an
ihr kam er nicht so vorbei, und wer etwas Großes wollte,
mußte mitten durch sie, im Kampf mit ihr, ihren Segen
empfangen. Das mußte so sein. Und er sagte sich vor:
Dies ist dein Sinn, dein Zweck vorerst in dieser Stadt,
daß du sie erkennst, daß du weißt, was sie ist. Nur so
wirst du das erringen, wozu es dich treibt. Das ist das
Wichtigste, das Erlernen, die Worte kommen erst nach-
her, sind ohne das Wissen um die Stadt leer und hölzern.
Und nur selten ging er noch in die Universität, sie
verstörte ihn noch mehr. Viel lieber lief er durch die
Gassen und Straßen mit aufgerissenem Auge und Herzen,
bereit, in sie das Wissen um die Stadt zu werfen, den
Schlüssel umzudrehen und ihn lachend von sich zu werfen.
* *
Dann trug chn der Zug einmal der Heimat zu. Er-
freute sich, etwas in ihm war angezerrt und wollte aus-
ruhen, frei daliegen. Er kam und umarmte den Vater,
die Mutter und drückte den Brüdern die Hand. Er-
fühlte in ihnen sein Blut und wurde dessen froh. Aber am
nächsten Tag, nachdem er im Dorf gewesen war, ging
er im Hofe auf und nieder, ohne Wort, ohne vom Boden
aufzublicken, ging von Wand zu Wand. Er ging zum
Pfarrer, er sprach mit ihm die besten und liebsten Worte,
aber mit einem Male mitten in der Flut von Väterlich-
keit und Freundschaft sah er ihn blaß werden, vor sich
zusammensinken, wie ein Haus zusammensinkt, in das
sie die Spitzhauen getrieben hatten, und besaß nichts vor
sich auf dem Stuhle. Das dauerte eine Weile, dann aber
gleichsam erwacht, hörte er wieder den gleichmäßigen
Strom guter Worte. Und als müßte er nun auch etwas
sagen, sprach er langsam: „Die vielen stummen Häuser."
„Wie?" fragte der alte Pfarrherr und rückte erschreckt auf
seinem Stuhle hin und her. Aber Kaspar antwortete
nur: „Christus weinte über Jerusalem," und empfahl sich
bald darauf, nicht ohne daß ihm der Alte besorgt auf die
Schulter geklopft hätte.
Kaspar saß in der Stube daheim und starrte auf die
Wand des Hauses da drüben. Warum, fragte er sich, ist
dies, aus gleichem Stoff gemacht, doch nicht dasselbe.
Wo ist der Unbekannte, der mich, dies verwirrt?
Und er rannte hinaus ins Freie. Er sah einen grauen
hungrigen Himmel und sank bis zu den Knien in den
Schnee. Aber er lief durch die Felder, wahrend es bis
in die Gurgel hinauf hämmerte. Er kam in den Wald
und sah die Aste den Schnee mit einer Demut ohne-
gleichen tragen, und wandte sich ab und lief, als hätte
ihm einer ins Gesicht geschlagen. Er stapfte über die
Felder, über die Furchen und keuchte. Da kamen aus
dem Schnee Schollen hoch. Er riß sich an und fiel weinend
in die Knie. Mit erstickter Stimme rief er, die Hände
ringend: „Ihr, Stück Erde und Baum, Schollen und
Wälder, wer hat mich euch fremd gemacht? In denen
ich lag, auf denen ich wuchs, wer hat mich von euch ge-
rissen, daß ich euch sehe mit ausgebranntem Herzen, darin
das gurgelnde Summen einem Ungeheuren, Erde
Fressenden, Erde Bedeckenden mich lockend zu sich zieht!
O nehmt mich wieder zu euch, laßt mich euer sein und
so wie ihr, in Demut tragend! Aber nie, nie! Wer schlug
mich in Bande, wer tritt mich, wer zertritt mich? Ich
hasse dich, Fremdes, ich liebe euch von meinem Blute,
aber ich kann nicht bei euch bleiben, ich kann nicht. Dort,
dort —!" Und er wies in einem großen Bogen in den
Horizont, dorthin, wo er schwarz zu sein schien von
Schloten und himmelragenden Dächern. Er hob sich und
rannte ins Haus und floh in sinnloser Hast die Erde seiner
Väter. Als er im Eisenbahnwagen saß und sie vorbei-
fliegen sah, sie, die geliebte nut den vertrauten Büschen
und brüderlichen Ackern, da sagte er aufatmend aus zer-
rissenem Schmerz: „Christus weinte über Jerusalem!"
und war glücklich. * * *
Seit dieser Flucht war er der Stadt verfallen. Sie
hatte ihn verschluckt, sie gab ihn nicht wieder. Er rannte
ZOZ
O, er fühlte schon, wie ihn das müde machte, so daß
es qualvoll dumpf gegen seine Hirnschale stieß und empor-
wollte, hinaus, ins Freie. Aber er durfte sich nicht unter-
kriegen lassen, nur nicht klein beigeben, nur dastehen,
wenn auch zerknittert und zergerbt, dann würde sich
alles schon von selber machen und finden. Ja, immer
zusehen, wie ein Haus gebaut wird, weil doch hier ein
Anfang ist. Etwas wie eine Zeugung. Und weil doch
dann das mitentstehen, mitwerden muß, was so ein
fertiges Haus stumm und groß macht. Jrgendeinmal
mußte doch irgendwer das ins Werk legen. Aber er sah
nichts, konnte nichts sehen, sah wie der Ziegel empor-
wanderte, Stock um Stock, mächtige Eisenschiencn an
Ketten emporgewunden wurden und wie der Mörtel
lustig in seinem Schaff nach oben tanzte. Und Arbeiter
und Arbeiter und Holz und Holz und Baume so groß,
wie sie nie ein Mensch gesehen oder geträumt hat.
Manchmal dachte er dann noch wie die Ameisen, sie
bauen und richten Zimmer und Gelaß her für einen,
von dem sie nicht wissen, wer er ist, ob er kommt und
wann er kommt und wie lange er verweilen wird.
Wunderliche Welt, sagte er, wie die Ameisen. Die einen
bauen, die andern wohnen; die bauen für andere, von
denen sie nichts wissen, und die wohnen, als hätten sie
sich's angeschafft, als wäre es für sie gebaut. Nur die
Häuser bleiben still, starr, stumm, schweigend. Es ist, als
hätten sie sich selbst gebaut und den Menschen nur er-
laubt, ihnen Kleider zu machen und anzulegen. Wunder-
lich, wunderlich, pfiff Herr Kaspar vor sich hin, und ver-
schwand im Nebel.
Aber er blieb dann wieder stehen, wenn er irgendwo
zerfetzte Mauern sah, wo ein Zimmer war, das kein Dach
mehr hatte und wie im Theater nur drei Wände zeigte, wo
die Türen und Fenster leere Löcher waren, wo die Ta-
peten in schmalen dünnen Streifen schon die Mauer
sehen ließen. Und oben waren die Ziegel, stiegen an
und fielen, unordentlich, wirr und zerhackt. Unten aber
standen Wagen mit schweißigen Pferden, und von oben
kamen bretterns Trichter, bretterns gedeckte Gange
gelaufen mitten hinein in das Innere der Wagen. Und
von oben kollerte durch Trichter und Gang was, kollerte
immer wieder und wieder, Wagen um Wagen kam und
ging und immer noch kollerte und rollte es von oben her
wie Lawine und Schutt, und der Staub ging wie ein
Nebel um und hoch. Kaspar klopfte dann das Herz und
er blickte nach oben und auf die Wagen und er fühlte
wieder die Macht, die diese ganze große Stadt zusammen-
hielt, die wußte, warum dies Haus aufgebaut und dies
niedergerissen wurde. Überall war diese Macht unsicht-
bar und dennoch wieder sichtbar. Und dies fühlte er, an
ihr kam er nicht so vorbei, und wer etwas Großes wollte,
mußte mitten durch sie, im Kampf mit ihr, ihren Segen
empfangen. Das mußte so sein. Und er sagte sich vor:
Dies ist dein Sinn, dein Zweck vorerst in dieser Stadt,
daß du sie erkennst, daß du weißt, was sie ist. Nur so
wirst du das erringen, wozu es dich treibt. Das ist das
Wichtigste, das Erlernen, die Worte kommen erst nach-
her, sind ohne das Wissen um die Stadt leer und hölzern.
Und nur selten ging er noch in die Universität, sie
verstörte ihn noch mehr. Viel lieber lief er durch die
Gassen und Straßen mit aufgerissenem Auge und Herzen,
bereit, in sie das Wissen um die Stadt zu werfen, den
Schlüssel umzudrehen und ihn lachend von sich zu werfen.
* *
Dann trug chn der Zug einmal der Heimat zu. Er-
freute sich, etwas in ihm war angezerrt und wollte aus-
ruhen, frei daliegen. Er kam und umarmte den Vater,
die Mutter und drückte den Brüdern die Hand. Er-
fühlte in ihnen sein Blut und wurde dessen froh. Aber am
nächsten Tag, nachdem er im Dorf gewesen war, ging
er im Hofe auf und nieder, ohne Wort, ohne vom Boden
aufzublicken, ging von Wand zu Wand. Er ging zum
Pfarrer, er sprach mit ihm die besten und liebsten Worte,
aber mit einem Male mitten in der Flut von Väterlich-
keit und Freundschaft sah er ihn blaß werden, vor sich
zusammensinken, wie ein Haus zusammensinkt, in das
sie die Spitzhauen getrieben hatten, und besaß nichts vor
sich auf dem Stuhle. Das dauerte eine Weile, dann aber
gleichsam erwacht, hörte er wieder den gleichmäßigen
Strom guter Worte. Und als müßte er nun auch etwas
sagen, sprach er langsam: „Die vielen stummen Häuser."
„Wie?" fragte der alte Pfarrherr und rückte erschreckt auf
seinem Stuhle hin und her. Aber Kaspar antwortete
nur: „Christus weinte über Jerusalem," und empfahl sich
bald darauf, nicht ohne daß ihm der Alte besorgt auf die
Schulter geklopft hätte.
Kaspar saß in der Stube daheim und starrte auf die
Wand des Hauses da drüben. Warum, fragte er sich, ist
dies, aus gleichem Stoff gemacht, doch nicht dasselbe.
Wo ist der Unbekannte, der mich, dies verwirrt?
Und er rannte hinaus ins Freie. Er sah einen grauen
hungrigen Himmel und sank bis zu den Knien in den
Schnee. Aber er lief durch die Felder, wahrend es bis
in die Gurgel hinauf hämmerte. Er kam in den Wald
und sah die Aste den Schnee mit einer Demut ohne-
gleichen tragen, und wandte sich ab und lief, als hätte
ihm einer ins Gesicht geschlagen. Er stapfte über die
Felder, über die Furchen und keuchte. Da kamen aus
dem Schnee Schollen hoch. Er riß sich an und fiel weinend
in die Knie. Mit erstickter Stimme rief er, die Hände
ringend: „Ihr, Stück Erde und Baum, Schollen und
Wälder, wer hat mich euch fremd gemacht? In denen
ich lag, auf denen ich wuchs, wer hat mich von euch ge-
rissen, daß ich euch sehe mit ausgebranntem Herzen, darin
das gurgelnde Summen einem Ungeheuren, Erde
Fressenden, Erde Bedeckenden mich lockend zu sich zieht!
O nehmt mich wieder zu euch, laßt mich euer sein und
so wie ihr, in Demut tragend! Aber nie, nie! Wer schlug
mich in Bande, wer tritt mich, wer zertritt mich? Ich
hasse dich, Fremdes, ich liebe euch von meinem Blute,
aber ich kann nicht bei euch bleiben, ich kann nicht. Dort,
dort —!" Und er wies in einem großen Bogen in den
Horizont, dorthin, wo er schwarz zu sein schien von
Schloten und himmelragenden Dächern. Er hob sich und
rannte ins Haus und floh in sinnloser Hast die Erde seiner
Väter. Als er im Eisenbahnwagen saß und sie vorbei-
fliegen sah, sie, die geliebte nut den vertrauten Büschen
und brüderlichen Ackern, da sagte er aufatmend aus zer-
rissenem Schmerz: „Christus weinte über Jerusalem!"
und war glücklich. * * *
Seit dieser Flucht war er der Stadt verfallen. Sie
hatte ihn verschluckt, sie gab ihn nicht wieder. Er rannte
ZOZ