Die Werkstatt der Kunst: Organ für d. Interessen d. bildenden Künstler — 11.1911/1912
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https://doi.org/10.11588/diglit.52948#0433
DOI Heft:
Heft 31.
DOI Artikel:Redaktioneller Teil
DOI Artikel:B., Ludwig: Warnung vor Schanghai
DOI Artikel:Boccioni, Umberto; Carrà, Carlo; Russolo, Luigi; Balla, Giacomo; Severini, Gino: Manifest der Futuristen
DOI Seite / Zitierlink:https://doi.org/10.11588/diglit.52948#0433
heft Z^.
die Richtigkeit der ihr zugegangenen Auskünfte, doch nimmt
sie Veranlassung, von der Ausführung der Idee „nur ab-
zuraten". Nach den betreffenden Auskünften seien die
künstlerischen Bedürfnisse des dortigen Publikums außer-
ordentlich gering und würden durch Reproduktionen und
Photos völlig befriedigt. Auch lege man schon deshalb
keinen großen wert auf künstlerische Ausstattung der
Wohnungen, weil man den Aufenthalt dort meist als vor-
übergehend betrachte. Nur die gesellschaftliche Einführung
sei günstig; doch seien für Verbrauchsspesen mindestens
6—7000 Mk. im Jahre zu rechnen, wenn der Maler allein
käme (und mindestens 9 — so000 Mk., wenn er Familie
mitbringe). Ls heißt dann wörtlich: „Die in Ihrem Briefe
ferner ausgesprochene Annahme, daß die Schanghaier
Fremdenkolonie einen Porträtmaler haben möchte, kann
nach den eingezogenen Erkundigungen leider nicht bestätigt
werden." von Tsingtau wird ebenfalls im negativen
Sinne berichtet. Schließlich wird hingewiesen auf die
gegenwärtige Krisis in China, die zur Abmahnung wei-
teren Grund biete.
Ganz abgesehen von der politischen Lage, die ja zur
Zeit der Einladung des „Schanghai-Malers" noch nicht
ins Gewicht fiel, hat es doch nach den amtlichen Erkundi-
gungen den Anschein, daß jener freundliche Mäzen allzu
optimistisch vorgegangen ist. Ich selbst bat ihn um nähere
Auskunft und Garantien, denn das Experiment ist mir
als bloße Studienreise zu teuer. Eine Antwort ist mir
nicht zuteil geworden. Ich glaube, die Sache war so, wie
wir alle sie immer wieder erfahren müssen: einwohlwollen-
der Mann des „Jenseits von der Kunst" hat plötzlich einen
von uns kennen gelernt, betrachtet uns nachdenklich und
ruft erfreut: „He! Für dich hätt' ich eine feine Idee!
Weißt du was?-" usw. Nachher ist's Essig. Gut
gemeint, schlecht getan. Man muß sich aber eigentlich
genieren, daß man immer noch nicht kuriert ist. (Und da-
bei wurde obendrein noch Kitsch verlangt! Nein, ich schreibe
meinen Namen nicht ganz hin.) S .. llr.
Manifest cler Futuristen*)
Am 8. März schleuderten wir von der Rampe
des Theaters Lhiarella zu Turin unser erstes Manifest
einem Publikum von 3000 Personen — Künstlern, gebil-
deten Menschen, Studenten und Neugierigen — entgegen,
einen gewaltigen lyrischen Block, der unseren Ekel und
unsere hochmütige Verachtung enthielt, unsere Empörung
gegen die Vulgarität, gegen die pedantische, akademische
Mittelmäßigkeit, gegen den Kult dessen, was antik und
wurmstichig ist.
Wir stimmten damit der Bewegung der futuristischer:
Dichter bei, die vor einem Jahr von F. T. Marinetti in
den Spalten des „Figaro" eingeleitet worden war.
Die Schlacht von Turin ist allbekannt geblieben. Wir
tauschten fast ebensoviel Faustfchläge wie Gedanken, um
den Genius der italienischen Kunst vor einem verhängnis-
vollen Tode zu bewahren.
Wir benutzten nun einen Stillstand in diesem mäch-
tigen Kampfe, um uns von der Menge zu trennen und
um mit technischer Genauigkeit unsere Neuerungen in der
Malerei auseinanderzusetzen, Neuerungen, für die der
Salon der Futuristen in Mailand eins glänzende Mani-
festatione war:
Unser immer wachsendes Wahrheitsbedürfnis kann sich
*) Anmerkungder Schriftleitung. Das vorstehende
Manifest der jüngsten Kunstrevolutionäre drucken wir mit
freundlicher Erlaubnis aus der Zeitschrift „Der Sturm"
(Herausgeber: Herwarth Walden) ab. Da die „Futuristen"
zurzeit in Berlin eine Ausstellung (Tiergartenstr. 3ha)
veranstalten, wird es gewiß interessieren, zu lesen, was
diese Künstler selbst über ihre Arbeiten und Pläne zu
sagen haben. „Geflüstert" sind diese Aeußerungen aller-
dings nicht und auch nicht „dämlich traditionell" — aber
immerhin interessant für spätere Kunstchronisten.
§23
nicht mehr mit Form und Farbe begnügen, wie sie bisher
aufgefaßt worden sind.
Die Geste, die wir aus der Leinwand wiedergeben
wollen, wird kein „festgehaltener Augenblick" des uni-
versellen Dynamismus mehr sein. Es wird einfach „die
dynamistische Empfindung" an sich sein.
In der Tat, alles bewegt sich, alles rennt, alles ver-
wandelt sich in rasender Eile. Niemals ist ein Profil un-
beweglich vor uns, sondern es erscheint und verschwindet
unaufhörlich. Da das Bild in der Netzhaut verharrt, ver-
vielfachen sich die Gegenstände, wenn sie sich bewegen, sie
verlieren ihre Gestalt, indem sie einander verfolgen, wie
überstürzte Vibration in dem Raume, den sie durcheilen.
Alles ist konventionell in der Kunst.
Nichts ist absolut in der Malerei. Was eine Wahr-
heit für die Maler von gestern war, ist nur eine Lüge für
die von heute, wir erklären zum Beispiel, daß ein Por-
trät nicht seinem Modell ähnlich sein darf, und daß der
Maler die Landschaften, die er aus die Leinwand bannen
will, in sich trägt.
Um ein menschliches Antlitz zu malen, muß man es
nicht malen; man muß die ganze Atmosphäre geben, die
es umhüllt.
Der Raum existiert nicht mehr. Das vom Regen naß-
gewordene und unter dem Schein der elektrischen Lampen
glänzende Straßenxslaster wird in der Tat unendlich hohl
bis an den Mittelpunkt der Erde. Tausende von Kilo-
metern trennen uns von der Sonne; das verhindert nicht,
daß das Haus vor uns mitten in der Sonnenscheibe sitzt.
wer kann also noch an die Undurchsichtigkeit der
Körper glauben, wenn unsere erhöhte und vervielfältigte
Lmpfindungssähigkeit die undeutliche Manifestation dessen,
das vermittelt, schon erraten hat? Warum sollen wir in
unseren Schöpfungen die verdoppelte Macht unserer Seh-
kraft vergessen, die den X-Strahlen ähnliche Erfolge er-
zielen kann?
Einige Beispiele unter unzählig vielen genügen, um
die Wahrheit unserer Behauptung zu zeigen.
Die t6 Personen, die man in einem in Gang befind-
lichen Autobus vor sich steht, sind nacheinander und doch
aus einmal t, lo, H, 3; sie sind unbeweglich und ändern
ihre Lage; sie kommen, gehen, Hüpfen in die Straße, ver-
schlungen von der Sonne, dann setzen sie sich wieder hin
wie ewige Symbole der allgemeinen Vibration.
Wie oft sahen wir nicht an der Wange der Person,
mit der wir uns unterhielten, das Pferd, das weit hinten
am anderen Ende der Straße daherlies.
Unsere Körper dringen in das Sofa, aus das wir uns
setzen, ein, und das Sofa dringt in uns ein. Der Autobus
stürzt sich in die Häuser, an denen er vorübersaust, und
die Häuser stürzen sich auf den Autobus und verschmelzen
mit ihm in eins.
Die Anlage der Bilder war bisher geradezu dämlich
traditionell. Die Maler zeigten uns niemals die Gegen-
stände und Personen vor uns. von nun an werden wir
den Beschauer in die Mitte des Bildes setzen.
wie in allen Bezirken des menschlichen Geistes ein
hellseherisches, individuelles Suchen die unbeweglichen
Niedrigkeiten des Dogmas beseitigt hat, so muß der be-
lebende Strom der Wissenschaft bald die Malerei von der
akademischen Tradition befreien.
wir wollen um jeden Preis in das Leben zurück-
kehren. Die siegreiche Wissenschaft von heute hat ihre
Vergangenheit abgeschworen, um besser den materiellen
Nöten unserer Zeit zu entsprechen; wir wollen, daß die
Kunst, indem sie ihre Vergangenheit abschwört, endlich
unseren intellektuellen Bedürfnissen entspreche, die uns
bewegen.
Unser ausgefrischtes Gewissen hindert uns daran, den
Menschen als den Mittelpunkt des universellen Lebens zu
betrachten. Der Schmerz eines Menschen ist ebenso inter-
essant für uns, wie der Schmerz einer elektrischen Lampe,
die unter krampfhaftem Zucken leidet und mit den herzzer-
reißendsten Ausdrücken der Farbe. Die Harmonie der
Die Werkstatt der Kunst.
die Richtigkeit der ihr zugegangenen Auskünfte, doch nimmt
sie Veranlassung, von der Ausführung der Idee „nur ab-
zuraten". Nach den betreffenden Auskünften seien die
künstlerischen Bedürfnisse des dortigen Publikums außer-
ordentlich gering und würden durch Reproduktionen und
Photos völlig befriedigt. Auch lege man schon deshalb
keinen großen wert auf künstlerische Ausstattung der
Wohnungen, weil man den Aufenthalt dort meist als vor-
übergehend betrachte. Nur die gesellschaftliche Einführung
sei günstig; doch seien für Verbrauchsspesen mindestens
6—7000 Mk. im Jahre zu rechnen, wenn der Maler allein
käme (und mindestens 9 — so000 Mk., wenn er Familie
mitbringe). Ls heißt dann wörtlich: „Die in Ihrem Briefe
ferner ausgesprochene Annahme, daß die Schanghaier
Fremdenkolonie einen Porträtmaler haben möchte, kann
nach den eingezogenen Erkundigungen leider nicht bestätigt
werden." von Tsingtau wird ebenfalls im negativen
Sinne berichtet. Schließlich wird hingewiesen auf die
gegenwärtige Krisis in China, die zur Abmahnung wei-
teren Grund biete.
Ganz abgesehen von der politischen Lage, die ja zur
Zeit der Einladung des „Schanghai-Malers" noch nicht
ins Gewicht fiel, hat es doch nach den amtlichen Erkundi-
gungen den Anschein, daß jener freundliche Mäzen allzu
optimistisch vorgegangen ist. Ich selbst bat ihn um nähere
Auskunft und Garantien, denn das Experiment ist mir
als bloße Studienreise zu teuer. Eine Antwort ist mir
nicht zuteil geworden. Ich glaube, die Sache war so, wie
wir alle sie immer wieder erfahren müssen: einwohlwollen-
der Mann des „Jenseits von der Kunst" hat plötzlich einen
von uns kennen gelernt, betrachtet uns nachdenklich und
ruft erfreut: „He! Für dich hätt' ich eine feine Idee!
Weißt du was?-" usw. Nachher ist's Essig. Gut
gemeint, schlecht getan. Man muß sich aber eigentlich
genieren, daß man immer noch nicht kuriert ist. (Und da-
bei wurde obendrein noch Kitsch verlangt! Nein, ich schreibe
meinen Namen nicht ganz hin.) S .. llr.
Manifest cler Futuristen*)
Am 8. März schleuderten wir von der Rampe
des Theaters Lhiarella zu Turin unser erstes Manifest
einem Publikum von 3000 Personen — Künstlern, gebil-
deten Menschen, Studenten und Neugierigen — entgegen,
einen gewaltigen lyrischen Block, der unseren Ekel und
unsere hochmütige Verachtung enthielt, unsere Empörung
gegen die Vulgarität, gegen die pedantische, akademische
Mittelmäßigkeit, gegen den Kult dessen, was antik und
wurmstichig ist.
Wir stimmten damit der Bewegung der futuristischer:
Dichter bei, die vor einem Jahr von F. T. Marinetti in
den Spalten des „Figaro" eingeleitet worden war.
Die Schlacht von Turin ist allbekannt geblieben. Wir
tauschten fast ebensoviel Faustfchläge wie Gedanken, um
den Genius der italienischen Kunst vor einem verhängnis-
vollen Tode zu bewahren.
Wir benutzten nun einen Stillstand in diesem mäch-
tigen Kampfe, um uns von der Menge zu trennen und
um mit technischer Genauigkeit unsere Neuerungen in der
Malerei auseinanderzusetzen, Neuerungen, für die der
Salon der Futuristen in Mailand eins glänzende Mani-
festatione war:
Unser immer wachsendes Wahrheitsbedürfnis kann sich
*) Anmerkungder Schriftleitung. Das vorstehende
Manifest der jüngsten Kunstrevolutionäre drucken wir mit
freundlicher Erlaubnis aus der Zeitschrift „Der Sturm"
(Herausgeber: Herwarth Walden) ab. Da die „Futuristen"
zurzeit in Berlin eine Ausstellung (Tiergartenstr. 3ha)
veranstalten, wird es gewiß interessieren, zu lesen, was
diese Künstler selbst über ihre Arbeiten und Pläne zu
sagen haben. „Geflüstert" sind diese Aeußerungen aller-
dings nicht und auch nicht „dämlich traditionell" — aber
immerhin interessant für spätere Kunstchronisten.
§23
nicht mehr mit Form und Farbe begnügen, wie sie bisher
aufgefaßt worden sind.
Die Geste, die wir aus der Leinwand wiedergeben
wollen, wird kein „festgehaltener Augenblick" des uni-
versellen Dynamismus mehr sein. Es wird einfach „die
dynamistische Empfindung" an sich sein.
In der Tat, alles bewegt sich, alles rennt, alles ver-
wandelt sich in rasender Eile. Niemals ist ein Profil un-
beweglich vor uns, sondern es erscheint und verschwindet
unaufhörlich. Da das Bild in der Netzhaut verharrt, ver-
vielfachen sich die Gegenstände, wenn sie sich bewegen, sie
verlieren ihre Gestalt, indem sie einander verfolgen, wie
überstürzte Vibration in dem Raume, den sie durcheilen.
Alles ist konventionell in der Kunst.
Nichts ist absolut in der Malerei. Was eine Wahr-
heit für die Maler von gestern war, ist nur eine Lüge für
die von heute, wir erklären zum Beispiel, daß ein Por-
trät nicht seinem Modell ähnlich sein darf, und daß der
Maler die Landschaften, die er aus die Leinwand bannen
will, in sich trägt.
Um ein menschliches Antlitz zu malen, muß man es
nicht malen; man muß die ganze Atmosphäre geben, die
es umhüllt.
Der Raum existiert nicht mehr. Das vom Regen naß-
gewordene und unter dem Schein der elektrischen Lampen
glänzende Straßenxslaster wird in der Tat unendlich hohl
bis an den Mittelpunkt der Erde. Tausende von Kilo-
metern trennen uns von der Sonne; das verhindert nicht,
daß das Haus vor uns mitten in der Sonnenscheibe sitzt.
wer kann also noch an die Undurchsichtigkeit der
Körper glauben, wenn unsere erhöhte und vervielfältigte
Lmpfindungssähigkeit die undeutliche Manifestation dessen,
das vermittelt, schon erraten hat? Warum sollen wir in
unseren Schöpfungen die verdoppelte Macht unserer Seh-
kraft vergessen, die den X-Strahlen ähnliche Erfolge er-
zielen kann?
Einige Beispiele unter unzählig vielen genügen, um
die Wahrheit unserer Behauptung zu zeigen.
Die t6 Personen, die man in einem in Gang befind-
lichen Autobus vor sich steht, sind nacheinander und doch
aus einmal t, lo, H, 3; sie sind unbeweglich und ändern
ihre Lage; sie kommen, gehen, Hüpfen in die Straße, ver-
schlungen von der Sonne, dann setzen sie sich wieder hin
wie ewige Symbole der allgemeinen Vibration.
Wie oft sahen wir nicht an der Wange der Person,
mit der wir uns unterhielten, das Pferd, das weit hinten
am anderen Ende der Straße daherlies.
Unsere Körper dringen in das Sofa, aus das wir uns
setzen, ein, und das Sofa dringt in uns ein. Der Autobus
stürzt sich in die Häuser, an denen er vorübersaust, und
die Häuser stürzen sich auf den Autobus und verschmelzen
mit ihm in eins.
Die Anlage der Bilder war bisher geradezu dämlich
traditionell. Die Maler zeigten uns niemals die Gegen-
stände und Personen vor uns. von nun an werden wir
den Beschauer in die Mitte des Bildes setzen.
wie in allen Bezirken des menschlichen Geistes ein
hellseherisches, individuelles Suchen die unbeweglichen
Niedrigkeiten des Dogmas beseitigt hat, so muß der be-
lebende Strom der Wissenschaft bald die Malerei von der
akademischen Tradition befreien.
wir wollen um jeden Preis in das Leben zurück-
kehren. Die siegreiche Wissenschaft von heute hat ihre
Vergangenheit abgeschworen, um besser den materiellen
Nöten unserer Zeit zu entsprechen; wir wollen, daß die
Kunst, indem sie ihre Vergangenheit abschwört, endlich
unseren intellektuellen Bedürfnissen entspreche, die uns
bewegen.
Unser ausgefrischtes Gewissen hindert uns daran, den
Menschen als den Mittelpunkt des universellen Lebens zu
betrachten. Der Schmerz eines Menschen ist ebenso inter-
essant für uns, wie der Schmerz einer elektrischen Lampe,
die unter krampfhaftem Zucken leidet und mit den herzzer-
reißendsten Ausdrücken der Farbe. Die Harmonie der
Die Werkstatt der Kunst.