XXII. JAHRGANG.
DARMSTADT.
FEBRUAR 1911.
DIE TECHNISCHE FORMENWELT IN KUNST UND NATUR.
VON PROFESSOR KARL WIDMER—KARLSRUHE.
Die moderne Technik hat eine Formenwelt ge-
schaffen, die sich von der des Handwerks im
wesentlichen durch zwei Eigenschaften unterscheidet:
einmal die größere Exaktheit der Arbeit, die
im Gegensatz zu der relativen Unregelmäßigkeit
handwerklicher Erzeugnisse eine absolute Eben-
mäßigkeit und Regelmäßigkeit der Linien und
Flächen aufweist; ferner die größere Knappheit
der Form, die äußerste Beschränkung des Material-
aufwands auf das, was durch den Zweck, die Kon-
struktion und die technische Leistungsfähigkeit des
Materials bedingt ist, während das Handwerk immer
mit einem größeren oder geringeren Überschuß
von Stoff arbeitet. — Die handwerkliche Arbeit
hatte ihre besonderen künstlerischen Vorzüge, die
mit dem Sieg der Technik verloren gehen mußten
Es war der persönlichere Charakter, der durch den
Einfluß der lebendigen Menschenhand hineinkam;
es war die frischere Materialwirkung, der Erdge-
ruch des Stoffes, der noch durch keine Technologie
verdorben war; und es war das Schaffen aus dem
Vollen, jenes Schwelgen im Material, durch das
die Formen den Charakter ihrer fleischigen Fülle
bekamen — »süß ist jede Verschwendung«, dieses
Wort bezeichnet so recht das Wesen des künst-
1811. II. 1.
lerisch handwerklichen Schaffens im Gegensatz zu
der materialgeizigen Produktionsweise der Technik.
Soviel nun auch unsere heutige Kultur durch die
technischen Fortschritte von diesen künstlerischen
Qualitäten verloren hat, so unberechtigt war doch
die Meinung von dem unbedingt kunstfeind-
lichen Wesen der Technik. Die Einsicht hat sich
längst Bahn gebrochen, daß auch die mechanische
Produktionsweise durch die Maschine einer künst-
lerischen Formveredelung fähig ist. Auch die
Exaktheit der Maschinenarbeit, die zweckbetonende
Knappheit der Form hat ihre eigene Art von
Schönheit, aus der sich ein künstlerisches Äquivalent
für die mit dem Handwerk untergehende Formen-
welt ergeben kann. Ja, die von der Kunst ver-
pönte Welt der technischen Formen hat schon
begonnen, von sich aus auf die Entwicklung des
künstlerischen Geschmacks einzuwirken. Auf Grund
der von der Maschine geschaffenen Formenwelt
hat sich ein neues Schönheitsideal entwickelt, dessen
wichtigste Repräsentation die Maschine selbst ist.
Die Frage ist, wie weit wir in ihr die Anfänge
einer neuen künstlerischen Kultur suchen dürfen:
wo die von der Technik geschaffene Formen-
welt ihre künstlerischen Aufgaben und wo sie die
DARMSTADT.
FEBRUAR 1911.
DIE TECHNISCHE FORMENWELT IN KUNST UND NATUR.
VON PROFESSOR KARL WIDMER—KARLSRUHE.
Die moderne Technik hat eine Formenwelt ge-
schaffen, die sich von der des Handwerks im
wesentlichen durch zwei Eigenschaften unterscheidet:
einmal die größere Exaktheit der Arbeit, die
im Gegensatz zu der relativen Unregelmäßigkeit
handwerklicher Erzeugnisse eine absolute Eben-
mäßigkeit und Regelmäßigkeit der Linien und
Flächen aufweist; ferner die größere Knappheit
der Form, die äußerste Beschränkung des Material-
aufwands auf das, was durch den Zweck, die Kon-
struktion und die technische Leistungsfähigkeit des
Materials bedingt ist, während das Handwerk immer
mit einem größeren oder geringeren Überschuß
von Stoff arbeitet. — Die handwerkliche Arbeit
hatte ihre besonderen künstlerischen Vorzüge, die
mit dem Sieg der Technik verloren gehen mußten
Es war der persönlichere Charakter, der durch den
Einfluß der lebendigen Menschenhand hineinkam;
es war die frischere Materialwirkung, der Erdge-
ruch des Stoffes, der noch durch keine Technologie
verdorben war; und es war das Schaffen aus dem
Vollen, jenes Schwelgen im Material, durch das
die Formen den Charakter ihrer fleischigen Fülle
bekamen — »süß ist jede Verschwendung«, dieses
Wort bezeichnet so recht das Wesen des künst-
1811. II. 1.
lerisch handwerklichen Schaffens im Gegensatz zu
der materialgeizigen Produktionsweise der Technik.
Soviel nun auch unsere heutige Kultur durch die
technischen Fortschritte von diesen künstlerischen
Qualitäten verloren hat, so unberechtigt war doch
die Meinung von dem unbedingt kunstfeind-
lichen Wesen der Technik. Die Einsicht hat sich
längst Bahn gebrochen, daß auch die mechanische
Produktionsweise durch die Maschine einer künst-
lerischen Formveredelung fähig ist. Auch die
Exaktheit der Maschinenarbeit, die zweckbetonende
Knappheit der Form hat ihre eigene Art von
Schönheit, aus der sich ein künstlerisches Äquivalent
für die mit dem Handwerk untergehende Formen-
welt ergeben kann. Ja, die von der Kunst ver-
pönte Welt der technischen Formen hat schon
begonnen, von sich aus auf die Entwicklung des
künstlerischen Geschmacks einzuwirken. Auf Grund
der von der Maschine geschaffenen Formenwelt
hat sich ein neues Schönheitsideal entwickelt, dessen
wichtigste Repräsentation die Maschine selbst ist.
Die Frage ist, wie weit wir in ihr die Anfänge
einer neuen künstlerischen Kultur suchen dürfen:
wo die von der Technik geschaffene Formen-
welt ihre künstlerischen Aufgaben und wo sie die