XXII. JAHRGANG.
DARMSTADT.
SEPTEMBER 1911.
VON DER KUNST UND DER WISSENSCHAFT.
Wissenschaft und Kunst ließen uns, neben dem
Familiensinn, von der Roheit des Naturzu-
standes stufenweise zu immer höherer Bildung und
Gesittung emporsteigen. ... »Daß der Mensch zum
Menschen werde« . .., verdanken wir diesen Kultur-
faktoren nicht zum geringsten. In ihnen wird die
Schöpferkraft menschlichen Geistes kaum weniger
leuchtend offenbar als in der Religionsphilosophie.
Aber bei aller Gleichwertigkeit als kul-
turelle Werte gleichen sich Wissenschaft
und Kunst, die wir gerne vermengen? Mit
nichten! Freilich umkleidet sich die Wissenschaft
für die große Masse der »Gebildeten« mit einem
gewissen Nimbus der Ehr Würdigkeit, gegenüber
dem jede andere menschliche Betätigung zurück-
zutreten hat. Wir bemerken sogar, je weniger die
Menschen aus der wissenschaftlichen Tätigkeit eines
Gelehrten Nutzen ziehen können, desto größer ist
die Ehrfurcht! Doch wie viele wissenschaftliche Ar-
beit beruht weniger auf angestrengter Denkarbeit,
als auf Gedächtniskram, fleißiger Statistik und Sam-
meltätigkeit. Und selbst die empirische Forschung,
der fruchtbarste Zweig der Wissenschaft, führt er
nicht auf ein totes Geleise? Ist mit dem unter
Mühsalen erreichten Endziel nicht auch zumeist der
Lebensnerv des Studiums entzweigeschnitten? Wenn
wir von Darwin bekennen hören, er besitze keine
Fähigkeit des Mitfühlens für dramatische oder
epische Helden, so drängt sich fast der Schluß auf,
daß einseitige Geistestätigkeit die emotionale Le-
bensintensität herabsetzt, die Frische des In-
stinkts verkümmert und das Gefühlsleben abstumpft.
Kunstäußerungen dagegen können wir nur
im Rahmen von Gefühlswerten näher treten;
sie stellen sich, da sie für Herz und Sinn ihre
reichen Gaben steuern, in den Dienst der Ethik.
Indem uns die Kunst in ein unübersehbares Reich
von Formen, Tönen, Akkorden und Harmonien
einführt, bringt sie uns der ewigen Schöpfung näher.
Allmächtig fast hält sie in uns das fest, was allein
das Leben ganz besitzt: die Erinnerung. Wer
könnte sonst Entzückungen, welche überwältigend
und mit dem Versprechen der UnVergänglichkeit
in unserem Herzen wohnten, zurückführen, wenn
sie dem Gegenstande nachgeflohen sind? Wer
außer den Künsten hebt uns mit magischen Kräften
vom Alltäglichen, Irdischen hinweg in das Land
der Hoffnung, der alleinigen Göttin des Glücks?
Nun nahm Frau Wissenschaft die Lupe, sezierte
die Kunst in allen ihren Äußerungen und Erschei-
nungen und fand für dieses Tun auch gleich den
Namen: Kunsthistorik, Kunstwissenschaft Es ist
1911. IX. 1.
DARMSTADT.
SEPTEMBER 1911.
VON DER KUNST UND DER WISSENSCHAFT.
Wissenschaft und Kunst ließen uns, neben dem
Familiensinn, von der Roheit des Naturzu-
standes stufenweise zu immer höherer Bildung und
Gesittung emporsteigen. ... »Daß der Mensch zum
Menschen werde« . .., verdanken wir diesen Kultur-
faktoren nicht zum geringsten. In ihnen wird die
Schöpferkraft menschlichen Geistes kaum weniger
leuchtend offenbar als in der Religionsphilosophie.
Aber bei aller Gleichwertigkeit als kul-
turelle Werte gleichen sich Wissenschaft
und Kunst, die wir gerne vermengen? Mit
nichten! Freilich umkleidet sich die Wissenschaft
für die große Masse der »Gebildeten« mit einem
gewissen Nimbus der Ehr Würdigkeit, gegenüber
dem jede andere menschliche Betätigung zurück-
zutreten hat. Wir bemerken sogar, je weniger die
Menschen aus der wissenschaftlichen Tätigkeit eines
Gelehrten Nutzen ziehen können, desto größer ist
die Ehrfurcht! Doch wie viele wissenschaftliche Ar-
beit beruht weniger auf angestrengter Denkarbeit,
als auf Gedächtniskram, fleißiger Statistik und Sam-
meltätigkeit. Und selbst die empirische Forschung,
der fruchtbarste Zweig der Wissenschaft, führt er
nicht auf ein totes Geleise? Ist mit dem unter
Mühsalen erreichten Endziel nicht auch zumeist der
Lebensnerv des Studiums entzweigeschnitten? Wenn
wir von Darwin bekennen hören, er besitze keine
Fähigkeit des Mitfühlens für dramatische oder
epische Helden, so drängt sich fast der Schluß auf,
daß einseitige Geistestätigkeit die emotionale Le-
bensintensität herabsetzt, die Frische des In-
stinkts verkümmert und das Gefühlsleben abstumpft.
Kunstäußerungen dagegen können wir nur
im Rahmen von Gefühlswerten näher treten;
sie stellen sich, da sie für Herz und Sinn ihre
reichen Gaben steuern, in den Dienst der Ethik.
Indem uns die Kunst in ein unübersehbares Reich
von Formen, Tönen, Akkorden und Harmonien
einführt, bringt sie uns der ewigen Schöpfung näher.
Allmächtig fast hält sie in uns das fest, was allein
das Leben ganz besitzt: die Erinnerung. Wer
könnte sonst Entzückungen, welche überwältigend
und mit dem Versprechen der UnVergänglichkeit
in unserem Herzen wohnten, zurückführen, wenn
sie dem Gegenstande nachgeflohen sind? Wer
außer den Künsten hebt uns mit magischen Kräften
vom Alltäglichen, Irdischen hinweg in das Land
der Hoffnung, der alleinigen Göttin des Glücks?
Nun nahm Frau Wissenschaft die Lupe, sezierte
die Kunst in allen ihren Äußerungen und Erschei-
nungen und fand für dieses Tun auch gleich den
Namen: Kunsthistorik, Kunstwissenschaft Es ist
1911. IX. 1.