Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Innendekoration: mein Heim, mein Stolz ; die gesamte Wohnungskunst in Bild und Wort — 22.1911

DOI article:
Utitz, Emil: Kunst und harmonisches Menschentum
DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.11722#0257

DWork-Logo
Overview
loading ...
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
XXII. JAHRGANG.

DARMSTADT.

JUNI 1911.

KUNST UND HARMONISCHES MENSCHENTUM.

Eine innere Entwicklung der Menschheit, die
wahrhaft als ein Fortschritt angesprochen
werden darf, ist nur möglich durch die Segnungen,
welche Religion, Wissenschaft und Kunst darbieten.
Würden wir diese Mächte aus dem Leben streichen,
würden wir dies Leben nur einstellen auf praktische
Nutzarbeiten, so wäre es nicht lebenswert und
nicht menschenwürdig. Erst wenn wir uns über
die Forderungen des Alltags hinaus erheben, erst
wenn wir unsere Blicke weiter schweifen lassen
als über den kleinen Interessenkreis, in den uns
das Leben hineingestellt hat, finden wir die Wege,
die zu allseitigem, reifem und hohem Menschentum
leiten. Hier können erst die bangen Fragen nach
Wert und Sinn des Lebens überhaupt ihre Ant-
wort finden; hier erblühen erst die edlen und
weihevollen Freuden, die wir als herrlichste Früchte
vom Baume des Lebens pflücken. Nicht die Gier
nach Luxus, nach Vergnügungssucht und nicht
Gefühlshunger treiben uns in jene Welten, sondern
der in uns gelegene Drang nach den Gipfeln des
Daseins, der Lrieb uns zu erhöhen und zu erheben
über die Notdurft des Tages, um von lichterer,
reinerer Warte herab Ausschau zu halten über
die Weiten und Tiefen des Lebens. Und wenn
sich uns durch die Bildwerke der Kunst der be-

seligende Zauber schöpferischer Persönlichkeiten
offenbart, erstarken wir selbst angesichts dieser
Entfaltung der großen Gebärden eines mächtigen
Seins. Die klägliche Armseligkeit des Tages fällt
von uns ab, die Stimmen des gewöhnlichen Lebens
verstummen, und uns umbrausen in vollen Akkor-
den die Gesänge einer anderen Welt, deren Linien
reiner und strenger, deren Farben kühner und
leuchtender, die uns verwandt ist, da die stillen
Heimlichkeiten unserer Seele uns entgegenklingen,
und in der alle Fragen und Rätsel schweigen,
wenn die wundervolle Weihe genußlicher Hinge-
gebenheit uns in Banden hält. — Schon die Tat-
sache, daß die Kunst uns lehrt, Dinge nur um
ihrer selbst willen zu lieben ohne Rücksicht auf
praktische Nutzbarkeiten, bedeutet rein vom allge-
mein menschlichen Standpunkte eine besondere
Förderung, ein gesundes Gegengewicht gegen die
mehr oder minder egoistischen Interessen, die das
sonstige Leben zeitigt. Die Fähigkeit, sich Ein-
drücken ganz hinzugeben, wie sie die Kunst ver-
mittelt, sie gefühlsmäßig zu erfassen und sich so
zu eigen zu machen, müssen wir als einen nicht
gering anzuschlagenden Vorzug betrachten, weil
nur auf diese Weise ein allseitiges, harmonisches
Menschentum erblühen kann. — dr. emil utitz.

1911. VI. 1.
 
Annotationen