DIE TRENNENDE LINIE.
Wenn wir von chinesischer, japanischer Zivilisation
hören, denken wir an etwas ganz genau Be-
stimmtes, das durch seine Eigenart, durch Verschieden-
heiten im Verhältnis zu anderen kulturellen Äußerungen
auffällt. Ähnlich streng umrissen ist die helleno-römische
Kultur. Grundverschieden von einander sind die tura-
nische und ägyptische Zivilisation. Treten wir vor
Dokumente solch ausgeprägter Kulturen, so zweifeln wir
nicht an ihrer inneren Notwendigkeit und genehmigen
ihren Formenausdruck als einen dem Charakter des
Volkes und der Zeit entsprechenden von vorneherein.
In Europa im engeren Sinne aber ist uns heute eine
so strenge Scheidung und deren Konsequenz abhanden
gekommen. Und dennoch ist auch hier die große
trennende Linie vorhanden. Zwei Rassenkomplexe waren
die Gestalter der Geschicke der europäischen Mensch-
heit : die südliche und die nördliche Völkergruppierung.
Was die Araber gründen, ist von kurzer Dauer; die
Mongolen zerstören, aber schaffen nichts; bleibende
Werte eningen nur die Erben Athens und Roms einer-
seits und auf der anderen Seite die germanischen Stämme.
Lassen wir heute die Frage, welcher dieser beiden Zivilisa-
tionen gründender Wert in höherem Maße beigemessen
werden darf, beiseite; dagegen sei festgestellt, daß die
Trennung \ orhanden ist. Der helleno-römische Geist
erwacht im Süden wieder im Rinascimento und zieht vor
allem in der Kunstsprache seine Kreise bis in unsere Zeit
herein: die Renaissance ist die Wiederholung der Antike,
der Empire ist die Renaissance der Renaissance, alles an-
dere ist Mischung. Im Norden dagegen gründen sich zu
Beginn des 13. Jahrhunderts die mächtige Hansa und
der rheinische Städtebund, bereitet sich der Boden für
den gotisch-germanischen Stil. Es besteht aber kein
größerer Gegensatz als der zwischen der gotischen
Kathedrale und dem griechischen Tempel. Er ist noch
bedeutender als jener zwischen den literarisch-philoso-
phischen Entwicklungsreihen von Homer zu Dante bis
Annunzio und Hartmann von Aue zu Luther, bis Ibsen
und Richard Wagner. Zwei völlig in sich abgerundete,
reife Leistungen krältigen Völkerwillens stehen sich in
diesen Bauwerken gegenüber. Verständnislos — sonst
hätte die Renaissance, die Tochter der Antike, das
germanische Kulturdenkmal nicht als barbarisch-gotisch
bezeichnen können. Zudem müssen wir uns vor Augen
halten, daß weder das klassische Altertum noch das
germanische Mittelalter im wesentlichen durch einzelne
1911. 111. 3.
Wenn wir von chinesischer, japanischer Zivilisation
hören, denken wir an etwas ganz genau Be-
stimmtes, das durch seine Eigenart, durch Verschieden-
heiten im Verhältnis zu anderen kulturellen Äußerungen
auffällt. Ähnlich streng umrissen ist die helleno-römische
Kultur. Grundverschieden von einander sind die tura-
nische und ägyptische Zivilisation. Treten wir vor
Dokumente solch ausgeprägter Kulturen, so zweifeln wir
nicht an ihrer inneren Notwendigkeit und genehmigen
ihren Formenausdruck als einen dem Charakter des
Volkes und der Zeit entsprechenden von vorneherein.
In Europa im engeren Sinne aber ist uns heute eine
so strenge Scheidung und deren Konsequenz abhanden
gekommen. Und dennoch ist auch hier die große
trennende Linie vorhanden. Zwei Rassenkomplexe waren
die Gestalter der Geschicke der europäischen Mensch-
heit : die südliche und die nördliche Völkergruppierung.
Was die Araber gründen, ist von kurzer Dauer; die
Mongolen zerstören, aber schaffen nichts; bleibende
Werte eningen nur die Erben Athens und Roms einer-
seits und auf der anderen Seite die germanischen Stämme.
Lassen wir heute die Frage, welcher dieser beiden Zivilisa-
tionen gründender Wert in höherem Maße beigemessen
werden darf, beiseite; dagegen sei festgestellt, daß die
Trennung \ orhanden ist. Der helleno-römische Geist
erwacht im Süden wieder im Rinascimento und zieht vor
allem in der Kunstsprache seine Kreise bis in unsere Zeit
herein: die Renaissance ist die Wiederholung der Antike,
der Empire ist die Renaissance der Renaissance, alles an-
dere ist Mischung. Im Norden dagegen gründen sich zu
Beginn des 13. Jahrhunderts die mächtige Hansa und
der rheinische Städtebund, bereitet sich der Boden für
den gotisch-germanischen Stil. Es besteht aber kein
größerer Gegensatz als der zwischen der gotischen
Kathedrale und dem griechischen Tempel. Er ist noch
bedeutender als jener zwischen den literarisch-philoso-
phischen Entwicklungsreihen von Homer zu Dante bis
Annunzio und Hartmann von Aue zu Luther, bis Ibsen
und Richard Wagner. Zwei völlig in sich abgerundete,
reife Leistungen krältigen Völkerwillens stehen sich in
diesen Bauwerken gegenüber. Verständnislos — sonst
hätte die Renaissance, die Tochter der Antike, das
germanische Kulturdenkmal nicht als barbarisch-gotisch
bezeichnen können. Zudem müssen wir uns vor Augen
halten, daß weder das klassische Altertum noch das
germanische Mittelalter im wesentlichen durch einzelne
1911. 111. 3.