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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 13,1.1899-1900

DOI Heft:
Heft 3 (1. Novemberheft 1899)
DOI Artikel:
Hart, Julius: Das "Fragmentische" Lesedrama, [2]
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https://doi.org/10.11588/diglit.7959#0103

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bestanden, der Dichter, der sein Werk ganz und allein poetisch ersann und schau-
spielerisch darstellte. Jeder Volksspatzrnacher, der etwa einen betrunkenen Menschen
spielt und dazu einige Flüche, Schimpfworte und sonst etwas Textliches „im-
provisiert" ist so ein „unfragmentarischer Dramatiker". Jn den Spielhallen
treten noch heute die „urkomischen Bendixe" auf, die Volkssänger, die sich selber
ihre Rollen und Lieder auf den Leib schreiben. Sind wir doch gerade eben
erst aus der Zeit herausgewachsen, da unsere ganze Theaterkunst wesentlich
nichts war, als so rohe Urkunst. Nur um zwei Jahrhunderte zurück, und sie
herrscht auf der deutschen Bühne so gut wie unbeschränkt. Da sind die Schau-
spieler auch die >Lrfinder der Handlung und dtr Worte. Das „Buchdrama",
nach dem sie spielen, entspricht allerdings genau dem, was nach Scherer und
den anderen erleuchteten Aesthelikern, jedes Drama, auch der Faust von Goethe
angeblich vorstellt. Das Drama der fahrenden Komödianten von damals ist
wirklich nur Plan, Skizze und Entwurf. Ein blotzes Szenarium, drei bis vier
beschriebene Seiten lang, — eine Angabe der auftretenden Personen, eine kurze
Andeutung des Ganges der Handlung. Man kann's sich auch noch emfacher
machen und besprichr kurz oor der Vorstellung die Geschichte, die man gleich
üarauf spielen will. Alsdann gehen Hanswurst und Kolombine, der potternde
Vater, der verliebte Held und die Liebhaberin heraus und „improoisieren" den
Zuschauern etwas vor, — reden, was ihnen gerade in den Sinn kommt .. .

Diese improvisatorische Schauspielkunst hat noch das ganze achtzehnte
Jahrhundert hinourch stark und mächtig bestanden und kämpfte einen wütenden
Kampf gegen das „regelmätzige Drama", eben das Buchdrama der Literatur,
das Drama der Poeten. Sie will ihre Reden nicht vorher auswendig lernm,
nicht nachsprechen, was der Dichter ihr vorschreibt. Sie ist die Beherrsch.rin
und Besitzcrin des Theaters, dem fahrenden Komödianten gehört die Jahr-
marktsbude, und in dem Poeten, im Dramatiker, sieht er nur einen anmatzen-
den Eindringling, der ihm seine Kreise verwirrt. Und unsere modernen Drama-
turgen müssen Vater Hanswurst doch auch Recht geben. Was will denn dieser
Poet eigentlich? Er kann dem Schauspieler nur die Skizze und den Plan eines
Kunstwerkes geben. Als wenn Hanswurst sich das nicht sclber machen könnte.
Der eigentliche, der ausführende, der sinnlich gestaltende Künstler ist und bleibt
er doch in jedem Fall. Das dramatische Werk reift sich in Wahrheit erst mit,
durch und im Augenblick der schauspielerischen Darstellung aus. Feriig erst
wird es im Schein der Bühnenlampen und vor den Augen des Publikums,
gewissermatzen in den Erregungen des Kulissenfiebers entsteht es, wie in an-
geregter Gesellschaft eine witzige Unterhaltung plötzlich zustande kommt.

Urkunst, — ja wohl! Aber keine Kunst höherer Entwickelung.

Und das Drama der Shakespere, Goethe, Schiller, Klcist, Grillparzer
sollte nicht im Kern und Wesen elwas ganz anderes sein, als das Szenarium
einer fahrenden Komödiantentruppe des siebzehnten und achtzehnten Jahr-
hunderts, welches erst in der Stunde der Aufführung durch eine improvisatorische
Schauspielkunst die weitere, die eigentliche und letzte künstlerische Ausgestaltung
erfährt?

Der große Kampf des „geregelten" Dramas gegen die improoisierende
Hanswurstdramatik, welch letztere auch heute noch in unseren Singspielhallen
und im Zirkus ruhig weiterülüht, — bedeutet also gar nicht eine so entscheidende
Revolution und Reformation in der Geschichte unseres Theaters. Datz sich da-
mals zwei Welten von einander schieden, daß unsere Bühne damals eine ge-
waltige Entwickelung durchmachte, datz ein ganz neues Theater, das Theater

Novemberheft
 
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