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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 13,1.1899-1900

DOI Heft:
Heft 3 (1. Novemberheft 1899)
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Hart, Julius: Das "Fragmentische" Lesedrama, [2]
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https://doi.org/10.11588/diglit.7959#0104

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der dramatischen Poesie, in jenen Tagen emporging, ist uns ossenbar noch gar
nicht recht zum Bervußtsein gekommen. Die tiefste geistige Bedeutung dessen,
was die Gottsched und Lessing, die Eckhof und Schroeder sür die Theaterkunst
gethan haben, wissen wir noch immer nicht zu würdigen.

Aus dem Chaos einer barbarischen rohen Urkunst steigt allerdings in jenen
Tagen ein neuer Gott heroor, die Theaterkunst in einer neuen, reineren und
höheren Form. Auch der Deutsche besitzt seitdem eine Literaturbühne, einen
Schauplatz für die Darstellung der dramatischen Poesie in ihren höheren und
höchsten Entwickelungen. Machen wir uns doch klar, daß auch in der Kunst
unablässig die organischen Fortbildungen und Umgestaltungen vor sich gehen,
die wir in der Natur wahrnehrnen. Das Literaturtheater, das Theater des
„regelmäßigen Dramas" ist eine neue Art und Gattung; es geht allerdings
mit einigen seiner Wurzeln aus dem Hanswursttheater hervor, aber es stellt
auch eine neue und höhere Entwickelung der Theaterkunst dar, wie sich nach
Darwinistischen Vorstellungen ein affenartiges Wesen in ein menschenartiges
allmählich umformt.

Jn jener diluvialen improvisatorischen Urkunst erscheint allerdings der
Dramatiker und der Schauspieler noch in einer Person vereinigt. Aber wenn
nun einer diesen Schöpfer eines theatralischen Gesamtkunstwerkes sür eine be-
sonders hohe Entwickelungsform des Künstler-Menschen ansieht, wenn er jene
improvisatorische Theaterkunst über die Kunst des heutigen Literaturtheaters
stellt, dann hat er noch wenige Einblicke in das organische Werden der Natur-
erscheinungen gethan. Dann sind auch jene einzelligen Wesen des Protisten-
reiches, dann ist ein Radiolarius der Tiefsee ein höheres und vollkommeneres
organisches Gebilde als das Zellenstaatswesen, welches wir Mensch nennen.
Denn auch auf der protistischen Entwickelungsstufe der Lebewesen vereinigt eine
einzige Zelle noch alles in sich; sie ist zugleich Bewegungs- und Nahrungs-
organ und weiß noch nichts von der Arbeitsteilung und dem Zusammenleben
eines vielzelligen Wesens, das Pflanze ward, Tier. . . Mensch.

Doch dringen wir weiter in das innerste Herz jener Aesthetik ein, welche
im dunklen Drang ihrer Gesühle das Buchdrama, das nicht aufgeführte Drama
nur sür das Fragment eines Kunstwerkes ansieht und die sinnlich-künstlerische
Verkörperung erst auf der Vühne vor sich gehen sieht.

Erst jetzt wird es uns klar werden, wie verworren ihre Vorstellungen
und Gedanken sind, und wie sie das innerste Wesen der Dichtung ganz und gar
nicht verstanden hat. Durchaus verschiedene Begriffe wirst sie kunterbunt
durcheinander und verwechselt sie.

Es handelt sich in diesem Streite allerdings um die Grundanschauungen
vom Wesen der Kunst, um die allerwichtigsten ästhetischen Begriffe, über die
wir uns zunüchst einnral klar werden müssen. Denn hier herrscht gerade heute
nach dem Zusammensturz der alten Kunstlehren, und da noch keine neue sieg-
reich sich durchgesetzt hat, eine allgemeine Verworrenheit, die fortwährend ge-
nührt wird durch einen arg nihilistischen Skeptizismus, der alles Aesthetisieren
für ein Dreschen leeren Strohes hält. Aber nur die verschwommenen Geister
und die Phrasenmacher gedeihen in solchen Zeiten der Dämmerungen und
Uebergänge.

Was heißt künstlerische Sinnlichkeit? Was heißt sinnliche Verkörperung
in der Kunst?

Ruustwart
 
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