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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 13,1.1899-1900

DOI Heft:
Heft 3 (1. Novemberheft 1899)
DOI Artikel:
Hart, Julius: Das "Fragmentische" Lesedrama, [2]
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https://doi.org/10.11588/diglit.7959#0105

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Als ich in die Literatur eintrat, da galt bei uns noch allgemein der
Grundsatz der älteren Aesthetik, datz die Kunst eine Darstellung des Schönen sei.
Jn den Kämpfen der achtziger Jahre wurde gerade um diesen Satz mit Leiden-
schaft gestritten, und ich darf wohl sagen, daß mein Bruder und ich mit die
Ersten gewesen sind, die seine Wahrheit zu erschüttern suchten. Jch habe da-
mals das Wesen der Kunst als Gestaltung bezeichnet.

Gestaltung! Das ift nun zunächst eine Fähigkeit und Eigenschaft, welche
aller Natur innewohnt, und ohne welche diese für uns gar nicht vorstellbar und
denkbar ist. Und in der That: Kunst und Natur sind Eines nur. Kunst heißt
nichts anderes als Natur. Es sind nur zwei Worte für ein und dasselbe Wesen.
Die schöpferische und zeugende, die bildende, sormende und gestaltende Kraft
der Welt, die sich in jeder Erscheinung unserem Auge enthüllt, — das nennen
wir ihre künstlerische Krast. Wir verfolgen sie durch alle Reiche der sogenannt
anorganischen wie organischen Natur und erkennen auch in ihr ewig fortschreitende
Gntwickelungen, aus denen stets Anderes und Neues hervorgeht. Der Mensch
ist nun ja selber wieder nichts als eine Erscheinung, ein Ding und Wesen dieser
Natur, — eine Blüte am Baume dieser Welt, und hat so Teil an ihrem innersten
Sein, an ihrer Kraft des Schöpfens und Gestaltens. Wir, als Menschen, er-
kennen in uns selber besonders hoch, ja die höchst organisierten Naturwesen,
wir nehmen uns wahr als Materie und Geist, als Körper und Seele, und so
besitzen wir auch eine zwiefache Gestaltungsfähigkeit, eine Körper- und eine
geistformende Eigenschaft.

Kunst im engeren Sinne ist nun eine Verkörperung unseres menschlichen
Geisteslebens, die nach Autzen hin projizierte, in Materie verwandelte innere
Welt unserer Gefühle und Vorstellungen, welche unmittelbar und lebendig-sinn-
lich wie die Vorgänge und Dinge der Autzenwelt empfunden und geschaut wird.

Wir können und müssen von einem doppelten Sinnlichen sprechen: von
einem Materiell- und einem Geistig-Sinnlichen, von einer sinnlichen Außen-
und von einer sinnlichen Jnnenwelt.

Alle jene körperlichen Dinge um uns, die wir betasten und greisen können,
die unsern Muskeln einen Widerstand entgegensetzen, stehen ja doch nicht nur
draußen da, sondern auch in uns, und wir sind uns ihrer bewutzt. Sie wur-
den empfunden und als Empfindungen blieben sie uns erhalten. Wir besitzen
alles, was da draußen erscheint und vorgeht, dauernd in uns als eine ebenso
lebendige, sinnlich-geistige Welt. Diese steckt in uns als Vorstellung und Ge-
sühl. Der Traum zaubert Vilder hervor, die wir nicht sür materiell halten,
die aber an Sinnlichkeit und Anschaulichkeit nichts denen der materiellen Außen-
welt nachgeben. Und die außerordentlich hoch entwickelte, die dichterische Ein-
bildungskraft erreicht, vornehmlich in den Stunden des Zeugens und Schöpfens,
sehr oft die Deutlichkeit und Schärfe des Traumes.

Jene Aesthetik nun, die im Drama nur das Fragment eines Kunstwerkes,
eine unfertige Schöpfung erblickt, hält diese Begriffe des Materiell- und des
Geiftig-Sinnlichen nicht auseinander, — ja im Grunde übersieht sie das Da-
sein der inneren Anschauungsfähigkeit vollkommen. Gerade die Kraft, die der
Lebensnerv aller Kunst ist, die große und einzige Göttin Phantasie, scheint für
diese wunderbar verständnisvollen Aesthetiker gar nicht zu bestehen.

Jndem sie sich an die materielle Sinnlichkeit der Dinge klammern und
in dieser das Wesen der künstlerischen Gestaltungskraft erblicken, schrumpft für
sie das wirkliche und eigentliche Wesen der Kunst, die geistig-sinnliche Dar-
stellungsfähigkeit, in ein Nrchts zusammen, und das ^bloße" Drama, das Drama,

Novemberheft

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