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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 13,1.1899-1900

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Heft 3 (1. Novemberheft 1899)
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Lose Blätter
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https://doi.org/10.11588/diglit.7959#0116

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Nun konnte sie einmal alles nach eigenem Gutdünken thun. Wie gut„
daß er jetzt nicht daheim war.

Jn ihrem Hirn hatten sich, so lang sie dachte, die schwierigsten Probleme
gewälzt: „Fett oder Schmalz? Was giebt mehr aus? Wie dehn' ich's am
besten? Heut nehm' ich um ein Vröckel weniger, dann reicht der Rest morgen
noch halbwegs — und übermorgen — da schöps' ich's von der Suppe."

Und die unheimlichen Kunststücke mit Fleisch und Vutter, daß alles aus-
reiche. — Und das Hangen und Bangen in den letzten Tagen des Monats,
wenn das Geld trotz alles Quälens und Marterns nicht mehr langte; — und
die ewige Unzufriedenheit, daß nichts gut genug war — und das Schuldbe-
wußtsein, die Angst, wenn sie antreten mußte, um das Wirtschaftsgeld zu
erbitten — auch wenn es pünktlich um die vorgesetzte Stunde war — er war
doch immer entrüstet. Wie eine Verbrecherin, eine Geldsortschlepperin hatte
sie vor ihm stehen müssen — ein Mal wie das andre Mal.

Da konnte sie sich bis aufs Blut gepeinigt haben und wie ein Raubtier
hinter allem drein gewesen sein. Das war alles gleich — immer dieselbe
Operation.

Ach, wie sie alles dessen müde geworden war — schon längst — längst
müde, wie ausgesogen.

Als junges Mädchen hatte sie recht gern gelesen, hatte sich Gedichte ab-
schrieben und schöne Aussprüche. Davon war nie mehr die Rede gewesen.

Nach jeder Wäsche Gebirge morschen Leinenzeugs und von früh morgens
an das Sinnen und Kämpfen, daß es zum Mittagessen lange, und daß mit
den lächerlichsten Mitteln etwas Anständiges auf den Tisch komme.

Kaum war gegessen, hieß es : „Und was zum Abendessen für all' die Leut?"

Und wie das Geld unter den Fingern fortglitt! — Jmmer derselbe
Schreck — immer dieselbe Aufregung. Plötzlich waren von allen Seiten die
Rechnungen wie losgelassen.

Das Mädchen brachte sie kühl mit heim, vom Bäcker, vom Metzger, von
Gott weiß wem!

Der Mama gab eine jede solche Rechnung einen Stoß in die Nerven.
Woher nehmen? — Wie kann denn das wieder zusammenkommen I

Diese Hetz bis aufs Blut, bis ins innerste Mark.

Und dann die Jahre, als die Kinder kamen.

Welche Sorgen!

Und immer so hilflos und trostlos, wie ein bis zu Todesmattigkeit ge-
triebenes Tier.

Das ohne Kraft und Mut sein. Das Ueberbürdete!

Und die ganze entsetzliche Qual immer wieder gleichmäßig von Anfang
bis zu Ende.

Nach jeder Geburt die ungeheure Arbeitsanhäufung, der sie widerstands-
los matt in größter Schwäche gegenüberstand!

Wie oft hatte sie sich gewunden vor aufgeregter, entsetzlicher Uebermüdung,
in Verzweislung sich in die Finger gebissen, vor Ratlosigkeit geweint! — Und
das alles Tag für Tag — nie ein Aufatmen, nie, daß die Seele sich ihrer selbst
einmal bewußt geworden wäre — nie eine Erholung — nie eine Anerkennung.

Geiftig wie tot und körperlich zerschunden. Und so Jahre lang, Jahre
lang ....

Ein Tier! ein armes, armes Tier!

Runstwarr
 
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