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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 13,1.1899-1900

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Heft 6 (2. Dezemberheft 1899)
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Lose Blätter
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https://doi.org/10.11588/diglit.7959#0252

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Denn nun beginnt ja schon die große heilige Dichtung, die die Leute
„Weihnachten" nennen.

So schöneDichtungen gibt es nur noch wenige. Eine heißt: „Entschwundene
Kindheit", eine andere: „Der nächste Frühling". Weitz jemand noch eine?

Es ist ganz unbestimmt, wie lang die schöne Dichtung ist, die „Weihnachten"
heißt. Es ist schon eine hübsche Zeit her, daß ich in erster Frühe aus dem Schlafe
geweckt wurde durch ein eifriges und andauerndes Geplapper. Das Geplapper
kam aus der Schlafstube der Kinder. Es war noch ganz dunkel. Jch horchte.

„Sechsundsechzigmal!"

„Nein, siebenundsechzigmal! Sieh mal: heut' ist der achtzehnte, nicht?
Bleiben also noch dreizehn Tage."

„Zwölf!"

„Ach Junge! Oktober hat doch einunddreißig!"

„Na ja: dreizehn!"

„Und November hat dreißig, macht dreiundvierzig, und dann noch vier-
undzwanzig vom Dezember, macht siebenundsechzig. Noch siebenundsechzigmal
schlafen, dann ist Weihnachten."

„Hm . . ."

So srüh schon vernehmen die Kinder aus dem Winterdunkel das serne
Schimmern und Singen . . .

Und dann ziehen sie jeden Morgen eins ab: jetzt noch sechsundsechzigmal
schlafen . . . jetzt noch fünfundsechzigmal . . .

Ganz so srüh sängt sür mich das Weihnachtslied nicht an. Aber doch
schon srüh. Der erste hergewehte Hauch eines nahenden Gesanges ist so schön
in seiner geheimen Ahnungssülle!

Man entfesselt bei Tisch oder in der Dämmerung oder nachmittags, wenn
man sich zu kurzer Ruhe auf's Faulbett gestreckt hat, ein Weihnachtsgespräch
unter den Kindern. Mein Neunjähriger erzählt aus der Schule. Der Lehrer
hat gesagt: „Wenn Jhr nicht sleißig seid, kriegt Jhr nichts vom Weihnachts-
mann." Da haben die Zungen gelacht und gerufen: „Es gibt ja gar keinen
Weihnachtsmann!" Da hat der Lehrer gesagt: „Soo? — Wer glaubt, daß es
einen Weihnachtsmann gibt?" Da hat ein einziger Junge den Finger gezeigt:
meiner. Und da haben die andern ihn ausgelacht.

Diese Schande! Gerade mein Sohn, der Sohn eines Menschen, der mit
hartnäckiger Bosheit sür „unbeschränkte Aufklärung" eintritt — gerade der muß
der einzige Gläubige sein in einer christlichen Schulklasse: Komm, Junge, ich
maß Dir die frommen Augen küssen; ich habe Dich grenzenlos lieb in Deiner
einsamen Schande!

So lange Jhr lebt, Kinder, soll es in Eurer Seele blühen, und aus jedern
verwelklen Glauben soll Euch ein neuer keimen! Das ist mein Segen. Nur
wenn man Euch zwingen will zum Glauben, durch Kerkerslrafen oder Höllen-
pein, dann sollt Jhr lachen, lachen aus voller Brust und beide Fäuste schütteln,
zum Zeichen, daß Jhr nötigenfalls bereit seid, sie zu brauchen! Auch Jhr,
Müdels! Daß Zhr mir nicht seige duckt, wenn Euch einer sagt: „Jhr müßt an
den Weihnachtsmann glauben, sonst leuchtet Euch kein Tannenbaum!"

Wir haben immer unsere stille Freude an einem Experiment, meine Frau
und ich. So um den September und Oktober herum sind die älteren unter
den Kindern noch fest üoerzeugt, daß der Weihnachtsmann nirgends anders
existiere, als im Portemonnaie des liebenswürdigen Vaters. Natürlich genießen
sie oolle Glaubenssreiheit. Nur gelegentlich süllt ein Wort, daß man den Knecht
Runstwart
 
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