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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 13,1.1899-1900

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Heft 9 (1. Februarheft 1900)
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Lose Blätter
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https://doi.org/10.11588/diglit.7959#0357

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rmd 30 und 55 rvird. Denn unsere Lebensgänge sind nicht so verschieden, als
ihre äußere Verschiedenheit scheinbar darthut. Die Seele lebt im letzten Grunde
immer und in Jedem das gleiche Leben, nur die Gesichter sind verschieden und
die Hüte, die man trägt.

Die Jnnenwelt kämpft überall den gleichen Kampf und freut sich überall
Ler gleichen Freude.

So verstanden objektiviert sich auch das Jndividuellste und Persönlichste
zum Allgemeinen und Typischen.

Der Schasfende selbst kann nur sich geben, wenn er sich nicht damit ge-
nügen will, bloß Außenbilder zu zeichnen. Er begreift nur aus sich heraus,
uicht in sich hinein.

Und hier liegen zugleich die beiden großen Quellgebiete alles schöpferischen
Schassens.

Das eine baut auf dem Leben der Jnnenwelt aus, das sich nach außen
hin zu vollbringen und auszugestalten sucht und dabei zu stetem Kampf ge-
zwungen ist, das andere auf der errungenen oder erträumten Erfüllung nach
Ueberwindung dieses Gegensatzes.

Was uns not thut, ist eine Kunst mit den Zielen der Kunst Goethes und
der Kunst Schillers, die Kunst einer bestimmten, sesten Weltanschauung, nicht
Naturalismus und nicht Symbolismus-

Es gilt für das Leben zu schaffen, nicht sür technische Virtuositäten!
Freilich ohne darin stecken zu bleiben. Aus ihm heraus und darüber hinaus
— sowohl über Grau als über Blau. Wir brauchen eine Kunst, die lebbar
ist, die mit hilft, aus dem Kampf, in dem wir alle liegen, hinauszusinden und
die uns vorbildlich vorangeht. Mit Genrebildchen und Ansichtspostkarten ist
nichts gethan.

Unsere Dichtung — ich bekenne mich herzlich gerne zu dem verrufenen
,Sollb — muß allmählich wieder „moralisch" werden, im Sinne Schillers.
Alle große Kunst war es und ganz implizite.

Und noch eines: das alte schöne Wort,Dichterh das man in Kinder-
jahren mit der höchsten Weihe umgibt, kommt immer mehr außer Kurs und
verliert immer mehr seine alle Gipfel umfassende Bedeutung, da sich unsere
besten Könner bewußt oder unbewußt immer ausschließlicher aus irgend ein
Sondergebiet zurückziehen.

Nach außen hin leistet dies einer längst zu Thorheit gewordenen Aesthetik
Vorschub, die eine Scheidung zwischen dramatischem, epischem und lyrischem
Schaffen sestlegte und jedes Gebiet sür eine besondere Begabung abgrenzte.

Jch meine, wer was kann, kann nicht bloß als Lyriker, kann auch als
Epiker und als Dramatiker etwas, wenn er wirklich will, und das heißt: wenn
er sich auf seinen Stuhl setzt und nicht etwa denkt, den Seinen gäbe es der
Herr im Schlaf und Talent und Genie sei etwas, wofür man selber eigentlich
nichts könne. Denn es gibt keine Wesensunterschiede zwischen dramatischem,
,novellistischenck oder lyrischem Schaffen.

Entweder es ist Einer Dichter und dann kann er, wenn er nicht vor
kleinen erlernbaren technischen Griffen zurückschreckt, ebenso gut mit Pinsel als
mit Stichel oder Feder bis zu der Höhe, bis zu der er überhaupt kann, oder
er kann überhaupt nicht zu einer Höhe.

Wendet man ein, daß dies alles vielleicht mehr Charakter- als Kunst-
sache sei — gut! Dann aber fehlt es eben an Charakteren. Virtuosen können
sie nicht ersetzen.

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Februarheft ^900
 
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