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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 13,1.1899-1900

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Heft 12 (2. Märzheft 1900)
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Bei Ruskin und jenseits von ihm
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https://doi.org/10.11588/diglit.7959#0458

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immer gewohnt, ein Gefühl religiös zu vertiefen, empfand er das Aeußer-
liche und Unwahre der damaligen akademischen Modekunft, fobald er fie
fah. Noch nicht Student, begann er die ,Mo6ero Uainters^ heraus-
zugeben, die den bald fiebzigjährigen und immer noch unverstandenen
Turner berühmt machten. Thorheit, die Natur veredeln zu wollen, fv
lehrte der junge Ruskin, Kunft bleibt immer weit hinter ihr zurück, aber
was sie hier erreichen könne, das erreiche sie freilich nur in demütigem
Nachahmen ihrer Schönheit. Realismus fei gewiß nicht, was diefe Aka-
demiker gäben. Aber Realismus fei auch nicht der Kolorismus der
alten Niederlünder mit ihrem Schwelgen in goldenem Braun ohne ehr-
lich grünes Gras und ehrlich blauen Himmel, noch die gepriefene Kunft
der italienifchen Hochrenaiffance mit ihren Formen ohne Charakter, ihren
Geberden voll Linienfchwungs aber ohne bezeichnende Wahrheit und
ihrer Kompofition voll äußerlicher Berechnung. Vor Rafael, d a fände
man Realismus, vor Rafael bei den „Primitiven" erzeige fich diefes
innige Anlehnen an die Natur, bei dieser Kunft, deren Heilige nicht mit
Emblemen ausgeputzte Puppen, sondern innig empfundene Bildniffe feien,
deren Landschaften fleißigft belaufchte Bildniffe auch der Felfen und
Bäume feien, deren Kolorit eine ehrliche Wiedergabe jenes Mofaiks von
Farben fei, das unter freier Sonne um uns leuchte. Die ersten Prä-
rafaeliten traten in England auf, noch unbeeinflußt von Ruskin und
aller Enden verfpottet, fofort fchritt er zu ihnen, und er brachte den Hol-
man, Hunt und Roffetti den Sieg. Man bedenke: das alles begann fchon
zu Anfang der vierziger Jahre und entfchied sich fchon im Anfang der
fünfziger. Führte Ruskin für England die Prärafaeliten zum Erfolg, fo
geht die Liebe zum Quattrocento, die heut unfre Kunftwiffenschaft faft
beherrfcht, für ganz Europa auf ihn zurück.

Und der Einfluß Ruskins auf das Kunstleben Englands wuchs
nach dem prärafaelitischen Siege weiter. Dieser Mann ftand zu vielen
englischen Eigenschaften in schrofffter Gegnerfchaft, und er verdammte zu-
mal den englifchen Gefchäftssinn auch durch das Wort mit Leidenfchaft.
Bußprediger aber hat noch jedes Volk ertragen, wenn sie nur hinreißend
und fchön zu fprechen wußten. Und dann war Ruskin auch wieder
Englünder ganz und gar. Er pries ihre Heimat in folchem Maß, daß
man in ihm mit vollem Rechte einen der allerwichtigsten Vorläufer der
Heimatkunst fieht. Er war es in feiner Abneigung gegen das Nackte,
die dann und wann an englifche Prüderie erinnert. Und er war es
vor allem in seiner Frömmigkeit, nein, wir dürfen geradezu fagen: in
feinem Moralisieren. Denn feine ganze Kunstlehre baut fich wie der
Teil einer Sittlichkeitslehre aus, und vor feinen Betrachtungen wisfen
wir oft nicht mehr: find sie äfthetifche oder moralifche. Ausgehend von
dem Glauben daran, „daß die menfchliche Natur adlig fei", will er die
Kunft als ftärkenden Lobgefang auf diefen Adel, den er beim reinen
Blut, bei der reinen Rasse sindet, körperlich wie geistig. Er kennt nichts
Sittlicheres, als edle Kunft. Aber edle Kunst ist ihm nur folche, die
einem fittlichen Zwecke mit Vewußtsein dient. Und hier ift der Punkt,
wo unsre Wege fich von den feinigen trennen. Ruskin glaubt der Kunft
fagen zu können, was fchön, was fittlich fei, und glaubt ablehnen zu
dürfen, was diesem feinem Empfinden nicht entfpricht. Wir meinen da-
gegen: wir sind alle Sucher, und Schönes, Sittliches, Göttliches kann
Aunstwart
 
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