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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 13,1.1899-1900

DOI issue:
Heft 12 (2. Märzheft 1900)
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Schultze-Naumburg, Paul: Die Bildende Kunst und die Lex Heinze
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https://doi.org/10.11588/diglit.7959#0472

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setzesmachern den Mißbrauch in jener Richtung vollkommen frei liehe.
Es ist ja dann alles der „Auffassung" preisgegeben. Und wir haben
gerade in den letzten Tagen wieder gesehen, welcher Natur diese Aus-
sassung an manchen Orten ist. Man entsernte Werke von Botticellh
des schwärmerischsten Jdealisten aller Zeiten, von Michelangelo, oon
Böcklin, von englischen Prärasaeliten, diesen keuschesten unter den Sitt-
lichen, aus den Schausenstern. Unsereiner saßt sich bei solchen Erleb-
nissen an die Stirn — leben wir unter Geisteskranken? Aber es wird
noch besser kommen, wenn sich das deutsche Volk in träger Jndolenz
dieses da ausbinden läßt. Wie sein ist das ausgedacht: „ohne unzüchtig
zu sein, das Schamgefühl verletzen." Gewiß, niemand wird össentlich
zu behaupten wagen, die herrlichen Göttergestalten eines Tizian, die
Titanen eines Michelangelo, die mädchenhaste Anmut eines Botticelli,
die harmonische Gliederpracht der ganzen Antike, kurz alles das, was
wir zu dem Höchsten rechnen, was je der Künstlergeist erschaut hat, —
sei unzüchtig. „Das sei serne von uns. Aber: sie verletzen unser Scham-
gesühl. Das Jhre nicht? Ja, das liegt dann an Jhrer sittlichen Ver-
kommenheit. Das meine verletzen sie eben. Jm Gesetz steht.nicht, daß
sie das Schamgesühl der ganzen Welt zu verletzen brauchen, sondern
nur, daß sie eben irgend ein Schamgesühl verletzen. Folglich: Ge-
sängnis bis zu sechs Monaten."

Was soll denn das eigentlich heißen: das Schamgesühl verletzen
durch Anschauen von Darstellungen nackter Menschengestalten? Jch
meinerseits muß gestehen: ich weiß nicht, wie das thut. Wenn
sich's um die künstlerische Darstellung eines schönen nackten Körpers
handelt, so habe zwar ich und jeder andere gesunde, schönheit-
empsindende Mensch ganz geiviß neben vielen anderen Beziehungen
auch meine sinnliche Freude an dieser Schönheit. Denn was nennen
wir denn Schönheit? War denn zuerst der Begriss da und dann
die Anschauung? Die Natur schmückte den Schmetterling, den bunten
Vogel mit seinem Hochzeitskleid, aus daß eins das andere dadurch an-
ziehe und begehre. Und im Vogel und im Schmetterling wirkte nicht
der Begriff, aber die Anschauung „schön". Und Gott schmückte so das
Weib und so den Mann in derselben Weise. Und das, was sie so an-
zog und was ihnen so herrlich erschien, das nannten sie „Schönheit".
Sie erhoben sich über das Nur-Geschlechtliche, indem der Mann auch
am Manne, das Weib auch am Weibe im „interesselosen Wohlgesallen"
der Kunst zu sehen lernte, was schön war. Sie veredelten ihr Empsinden,
indem es zusammenklang mit dem hohen Liede auf das „Ebenbild
Gottes". llnd nun sollen sie sich schämen — schümen schon, wenn
sie ein Abbild von Ebenbildern Gottes sehen. Das versteh Einer!

Man sollte denken: Wie die Menschen, die Menschen selbst, nicht
die Kleider vom Schneider, aussehen, das wissen wir doch? Ach ja,
wir wissens. Aber wie viele sind, die's nicht mehr wissen! Die sich kaum
selbst mehr sehen, die keine Ahnung davon haben, was ein schöner
Mensch, was ein häßlicher Mensch ist. Und die beim Anblick eines
Menschen, wie ihn Gott geschaffen, nur noch eins empfinden können:
eine sexuelle Auswallung. Wie entsetzlich doch. Man denke nur, was
für „niederen Jnstinkten" unserer Eltern wir unsere Entstehung ver-
danken. Niedere Jnstinkte, so sagen die sittlichen Männer im Reichstage
Aunstwart
 
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