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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 14,1.1900-1901

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Heft 1 (1. Oktoberheft 1900)
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Grunsky, Karl: Hugo Wolfs spanisches Liederbuch
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https://doi.org/10.11588/diglit.7961#0029

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Wir besitzen außcr diesen zehn musikalischen Dichtungen besonders im Moerike-
zyklus noch manche Perle religiöser Tonkunst. Jm Spanischen Liedcrbuch aber
scheint sich Wolfs dem Göttlichen hingegebenes Gcmüt am reichstcn und
unmittelbarsten auszusprcchen. Wer dars bchaupten, Wols so von Grund aus
zu kennen, daß cr die Art seiner Religiosität festzustellen vermöchte? Bach mit
der A-moII-Messe und Liszt mit dem Christus-Oratorium geben nicht solches
Rätsel auf; beide warcn zeitlcbens demütig-gläubige Naturen. Scltsamer
berührt schon Beethovcns Missa, wenn man die bewußte Abwendung ihrcs
Schöpfers von Kirche und Dogma erwägt. Wagner als Dichter des Parsifal
hat bekanntlich den treuesten Verehrer Nietzsche an sich irre werden lassen.
Welcher Art waren die religiösen Probleme, die Wolf bewegten, als er ^889
bis ,890 die spanischen Lieder schuf?

Dic Musik beweist Jnnigkeit und Heftigkeit dieser Erschüttcrungen. Mit
der pspchologischen Erklärung dürfen wir uns diesmal nicht befassen. Nur
im Vorübergehen gcbcn wir die Thatsache zu bedenken, daß die Meisterwerke
religiöser Musik im neunzehnten Jahrhundert fast ausnahmslos dem
Katholizismus zugcschriebcn werden müssen: Becthoven, Berlioz, Liszt, Bruck-
ner, Wolf, alle knüpsen an die uralte Ueberlieferung wieder an, und sind
doch so sclbständigcn, so modernen Geistes — ivie fügt sich das zusammcn? ...

Die zwei crsten geistlichen Lieder Wolfs „Nun bin ich dein" und „Die
du Gott gcbarst" entnehmen die Atittcl dcs Ausdrucks namentlich einer
grandiosen Harmonie: so schmerzlich hat vor Beethoocn nur Bach im „Cruci-
fixus" moduliert. Ein Kontrapunkt des Rhythmus (-/^ gegen ^/i) steigert das
zwcite Lied zu belcbteren Geberden. Vom Geist dcr Askese sind erfüllt die
beidcn schwermütigen „Mühvoll komm ich" und „Ach! wie lang die Seele
schlummert". Den höchsten Grad religiöser Jnbrunst errcicht Wolf in dcn
Schlußgcsängen „Herr, was trägt der Bodcn hier" und „Wunden trägst du,
mcin Gcliebter" ; was die Musik an Ausdruck hergeben kann, scheint hier orreicht.
Jn der Malcrci war es Murillo, der die Geheimnissc der Mystik cnthüllte; vor
seincn Darstellungen dcr unbefleckten Empfängnis steht man betroffen über den
unglaublichcn Ausdruck von Begeisterung, von Konzentration. Und merkwürdig:
wie gerade Murillo zugleich die lebenswahrsten Lkinder gemalt hat, so fand
Wolf dcn einfachen Ton auch sür die schlichteste Aeußerung religiösen und
weltlichcn Empfindcns. Die srommen Terzen dcr mittleren geistlichen Gesänge
(des drittcn bis sechsten) machen den Eindruck dcr Naivetät. Jn allen diesen
Liedcrn fesselt die Melodie durch feingeschwungene Zcichmmg. Man denke
einmal nach, wie dic Worte „Unverlorcn bin ich doch, willst du mich rctten",
am Schluß des zweitcn Liedcs, zu sctzcn wären, und schlage dann Wols aus,
ob die Schritte seincr Melodie nicht dic einfachstcn und ergrcifendsten sind?
Es ist nötig, hier auf etwas aufmerksam zu machen, was wcdcr als künst-
lerische Schwierigkeit noch als künstlerisches Ergcbnis gcnügend bcachtet zu
wcrden pflegt: dic Vcrwebung der Singstimmc in den Klavierpart und um-
gekchrt. Bcides geht scinen eigenen Gang; und wcr beides übersicht, findet
doch gcmcinsamc Logik darin. Vor Wagner war dieser frcie Bund solb-
ständigcr Vokal- und sclbständiger Jnstriimciitalmiisik nicht zu solch herrlicher
Ehe gedichcn. Bei Wolf bliebe nur dcr Wunsch übrig, es möge von berufcncr
Seite die Stimmlagc jcdcs Liedes festgestellt werden; es ist doch kaum denk-
bar, daß sich Wolf jc im unklarcn war, ob er die Singstimmc als Tcnor oder
Sopran in dic Harmonien dcs Klaviers einslocht.

Vktoberbeft ^900
 
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