Runctsckau.
kiteratur.
» Von dor Charakteri stik.
Wer die ästhetischen Anschauungen
und literarischen Regeln mcitentlegener
Zeiten prüst, dcm cntschlüpft mohl
mehr als einmal der Ausruf: Wic
war es nur menschenmöglich, das; ganze
Jahrhunderte sich in eincn Jrrtum
verbohrten, ohne dah auch nur ein
einziger Finger nach der ofsen und frei
zu Tage liegcnden Wahrheit wies?
Nun, das Kunststück ist nicht so
schwierig. Es handclt sich bloß darum,
jeweilen unanfcchtbare undiskutierbarc
Grundwahrhciten zu deklarieren.
Ob nicht vielleicht auch wir solche
ästhetische Grundwahrheiten bekcnnen,
die sich dereinst als unbegreifliche Jrr-
tümer einer ganzen Generation er-
wcisen werden?
Nehmcn wir z. B. unscr heutigcs
Dogma der Charakteristik, ich meinc
die Forderung, daß jeder Dichter in
jedem Werk jcdc Person möglichst deut-
lich und stark zu indioidualisiercn
gehaltcn sci, und damit verbunden
die Voraussetzung, daß die Charakte-
ristik die höchste Ausgabe der Dicht-
kunst, dcr Prüfstein des dichterischen
Wertes wäre. Ja, die nreisten können
sich heutzutage nicht cinmal mehr vor-
stellen, was jcnseits der Charaktcristik
überhaupt noch von der Poefie übrig
bliebe.
Nun, wenn wir die ganze Poesic
dcr Griechen und Römer zusammcn-
nehmen und überdies noch'die Poesic
der italienischcn und französischen
Renaissance hinzufügen, so ist in alle-
dem vereinigt nicht so vicl Charakte-
ristik enthalten, wic in den Werken
cines einzigen unserer bessern Volks-
schriftsteller. Mehr noch: die allcr-
grötzten Dichter der Weltlitcratur lasscn
sich mituntcr Undeutlichkeitcn, ja so-
gar Verstötze in Sachen der Charakte-
ristik zu Schulden kommen, wic sie
dem ersten besten fleitzigen und vor-
Tknnstwart
sichtigen Romanschriftsteller nie wider-
fahren würden. Wenn also die Cha-
rakteristik der Kern der Pocsie und der
Prüfstein des Dichters würe, so mützte
Jeremias Gotthelf übcr Homer, Anzen-
gruber über Schillcr und Sophokles
stehen. Oder will man mir etwa das
Wörtchen,trotzdem"cinwenden?,Trotz-
dem" ist immer eine verzweifelte Logik.
Meine Logik sagt mir: wenn ich einer-
seits alljährlich um Weihnachtcn die
„herrlichenFraucngcstaltcn", die „präch-
tigen markigen Figuren aus dcm pul-
sicrenden Leben", „die unuergänglichcn
Farben der Charaktcrzeichnung" ba-
taillonsweise nach dcm Orkus fahren
sehe, aus Nimmerwicdersehcn, und
anderseits den zweitauscndjährigcn
Homer auf meinem Tische bctrachte,
der unbeschadet seincr rudimentären
Stummel-Charaktcristik heutc noch so
hell strahlt wic vor zweitausend Jahren,
so wird es wohl mit dcr entschciden-
den Bedeutung der Charakteristik nicht
gar so weit her scin.
Nein, die Charaktcristik ist nicht
das Wcsen dcr Pocsie, jn nicht einmal
ein Bestandteil ihrcs Wesens, sondcrn
ein poetisches Kunstmittel. Zwar am
richtigen Platz gewitz cin unschätzbares,
ja unersctzlichcs Kunstmittel, abcr ein
untergeordnetes, ein räumlich beschränk-
tes, und, beiläufig gesagt, auch cin
verhältnismätzig leichtes Kunstmittel.
Da kennt die Poesie unglcich schwieri-
gere Aufgaben I Dic ursprüngliche
Hcimat der Charakteristik istder Humor;
ihr ererbtes Stammgut ist die Ko-
mödie und die erzählende Prosa, ihr
nachträglich hinzuerworbcncsEigentum
ist die rcalistische Poesie auf der Bühne
und im Buch. Jn dcr idealcn Poesie
kann das Kunstmittcl dcr Charakte-
ristik nur nebcnher und untenher be-
nützt werden, entweder cpisodisch oder
in Nebenfigurcn odcr in vorsichtiger
leiser Abtönung. Wer hicr darauf
ausginge, die Hauptpersoncn scharf
Z84
kiteratur.
» Von dor Charakteri stik.
Wer die ästhetischen Anschauungen
und literarischen Regeln mcitentlegener
Zeiten prüst, dcm cntschlüpft mohl
mehr als einmal der Ausruf: Wic
war es nur menschenmöglich, das; ganze
Jahrhunderte sich in eincn Jrrtum
verbohrten, ohne dah auch nur ein
einziger Finger nach der ofsen und frei
zu Tage liegcnden Wahrheit wies?
Nun, das Kunststück ist nicht so
schwierig. Es handclt sich bloß darum,
jeweilen unanfcchtbare undiskutierbarc
Grundwahrhciten zu deklarieren.
Ob nicht vielleicht auch wir solche
ästhetische Grundwahrheiten bekcnnen,
die sich dereinst als unbegreifliche Jrr-
tümer einer ganzen Generation er-
wcisen werden?
Nehmcn wir z. B. unscr heutigcs
Dogma der Charakteristik, ich meinc
die Forderung, daß jeder Dichter in
jedem Werk jcdc Person möglichst deut-
lich und stark zu indioidualisiercn
gehaltcn sci, und damit verbunden
die Voraussetzung, daß die Charakte-
ristik die höchste Ausgabe der Dicht-
kunst, dcr Prüfstein des dichterischen
Wertes wäre. Ja, die nreisten können
sich heutzutage nicht cinmal mehr vor-
stellen, was jcnseits der Charaktcristik
überhaupt noch von der Poefie übrig
bliebe.
Nun, wenn wir die ganze Poesic
dcr Griechen und Römer zusammcn-
nehmen und überdies noch'die Poesic
der italienischcn und französischen
Renaissance hinzufügen, so ist in alle-
dem vereinigt nicht so vicl Charakte-
ristik enthalten, wic in den Werken
cines einzigen unserer bessern Volks-
schriftsteller. Mehr noch: die allcr-
grötzten Dichter der Weltlitcratur lasscn
sich mituntcr Undeutlichkeitcn, ja so-
gar Verstötze in Sachen der Charakte-
ristik zu Schulden kommen, wic sie
dem ersten besten fleitzigen und vor-
Tknnstwart
sichtigen Romanschriftsteller nie wider-
fahren würden. Wenn also die Cha-
rakteristik der Kern der Pocsie und der
Prüfstein des Dichters würe, so mützte
Jeremias Gotthelf übcr Homer, Anzen-
gruber über Schillcr und Sophokles
stehen. Oder will man mir etwa das
Wörtchen,trotzdem"cinwenden?,Trotz-
dem" ist immer eine verzweifelte Logik.
Meine Logik sagt mir: wenn ich einer-
seits alljährlich um Weihnachtcn die
„herrlichenFraucngcstaltcn", die „präch-
tigen markigen Figuren aus dcm pul-
sicrenden Leben", „die unuergänglichcn
Farben der Charaktcrzeichnung" ba-
taillonsweise nach dcm Orkus fahren
sehe, aus Nimmerwicdersehcn, und
anderseits den zweitauscndjährigcn
Homer auf meinem Tische bctrachte,
der unbeschadet seincr rudimentären
Stummel-Charaktcristik heutc noch so
hell strahlt wic vor zweitausend Jahren,
so wird es wohl mit dcr entschciden-
den Bedeutung der Charakteristik nicht
gar so weit her scin.
Nein, die Charaktcristik ist nicht
das Wcsen dcr Pocsie, jn nicht einmal
ein Bestandteil ihrcs Wesens, sondcrn
ein poetisches Kunstmittel. Zwar am
richtigen Platz gewitz cin unschätzbares,
ja unersctzlichcs Kunstmittel, abcr ein
untergeordnetes, ein räumlich beschränk-
tes, und, beiläufig gesagt, auch cin
verhältnismätzig leichtes Kunstmittel.
Da kennt die Poesie unglcich schwieri-
gere Aufgaben I Dic ursprüngliche
Hcimat der Charakteristik istder Humor;
ihr ererbtes Stammgut ist die Ko-
mödie und die erzählende Prosa, ihr
nachträglich hinzuerworbcncsEigentum
ist die rcalistische Poesie auf der Bühne
und im Buch. Jn dcr idealcn Poesie
kann das Kunstmittcl dcr Charakte-
ristik nur nebcnher und untenher be-
nützt werden, entweder cpisodisch oder
in Nebenfigurcn odcr in vorsichtiger
leiser Abtönung. Wer hicr darauf
ausginge, die Hauptpersoncn scharf
Z84