DOI Heft:
Heft 8 (2. Januarheft 1901)
DOI Artikel:Lose Blätter
DOI Seite / Zitierlink:https://doi.org/10.11588/diglit.7961#0408
Jn lichterloher Begeisterung hatte Karl Berkebusch weitcrgespielt. Allcs
war ihm prachtooll gelungcn.
Mitten im Vorspiel zum dritten Akte hatte der Kantor sich sachte er-
hoben und mar auf den Zehen ans Klavier geschlichen, um dem Spieler über
die Achseln weg nachzulcscn. Das Quintctt hatte er da capo vcrlangt. Nach
dcm erhabcnen „Wach auf"-Choral hatte Konring in großer Ergriffenheit ge-
winkt, eine Pause zu machen. Ans Fenster war er getrcten und hatte stumm
hinausgcschaut, an die altersgrauen, steinernen Wände seincr Kircho hinauf
und lange starr und unverrückt hinein ins große mittlere Schalloch über dcr
llhr. Und zuletzt, nach Sachscns Schlußlied, hatte er ungcstüm beide Hände
des Spiclers gepackt und kräftig geschüttelt, immer wieder von neuem und ganz
wie abwesend gestammelt: „Diese -Meistersinger--Noten ... lieber Kollege ..
bchalt' ich, lcih' ich Jhnen ab ... Damit muß ich niorgen gleich zu meinem
Pastorenl"
Schräg vom hohcn Felde herüber gleiten die lctztcn Strahlen der sinken-
den Sonne über Fichtenhagen hin- Wie von Gold übergosscn schimmern die
Eichenkronen, der Wipfcl dcr alten Kirchenlinde, und auf die roten Wellzicgel
des Turmdachcs strahlt warm die Sonne ihren Scheidcgruß. Hollunder,
Flicder und Jasmin, Lilien, Goldlack, Nclken, die ersten Monalsroscu blühen
im Schulgarten, er haucht bcrauschenden Duft. Auf allcn Beetcn, im Busch-
und Strauchwerk am Zaun hin, überall die üppigste Blütcnpracht. Frühling,
Frühling ist's draußenl Frühling, o Wonnc! Um die Wette singen die Finken,
Rotschwänzchcu, Grasmückcn, Sprehen und Amseln in den Eichen, Pappcln,
Ebcreschcu, in dcu Obstbäumen, in den Hccken.
Nicht nur dcm Kantor — allen. so scheint cs, ist die Musik zuletzt doch
zu Herzen gcgangen. Konring schrcitet vom Klavicre langsam wieder ans
Fenster. Er ösfnet mcchanisch beideFlügel. Köstlicher, würziger Duft, erfrischcnde
Abendkühle strömt hcrcin in die dumpfige Schulstube.
Endlich wcndct er seincn ehrwürdigcn grauen Kopf und flüstert: „Wciscn
Sie 'mal her, Berkcbusch, lieber Kollcgc, wie waren doch die Worte:
. Wie duftet doch dcr Flieder
So mild, so stark und ooll!
Mir löst es wcich die Glieder,
Will, daß ich was sagen soll. —
Was giltS, was ich dir sagen kann?
Bin gar ein arm einfältig Mann!- "
Lauge schweigt er dann wieder, liebevoll blickt scin blaucs hcllcs Auge.
Dann neigt er lauschcnd dcn Kopf. Die Amseln dr'außen! Ein leises, seines
Lächeln trautcr Erinncrung spiclt um scinc Lippcn und traumverlorcn spricht
cr in sich hinein: „Ia, wie Vogelgcsang im Mai!" ...
Plötzlich richtet Meister Konring sich cncrgisch auf und stuvst kräftig mit
dcr Faust auf das Fensterbrett: „Schriftführer, Kollegc Alfkc, schnell, stipp'
man dcinc Fedcr noch 'mal ein — zu Protokoll: aus der Himmclfahrtskoiifci enz
iu Fichtcnhagcn den 22. Mai anno 1882 dic »Mcistersiiigcr« von Nichard
Wagner mit grvßcr Stimmcnmehrheit zulctzt doch noch anerkannt."
,S»
— ZiZ
2. Ianuarheft lyoi
war ihm prachtooll gelungcn.
Mitten im Vorspiel zum dritten Akte hatte der Kantor sich sachte er-
hoben und mar auf den Zehen ans Klavier geschlichen, um dem Spieler über
die Achseln weg nachzulcscn. Das Quintctt hatte er da capo vcrlangt. Nach
dcm erhabcnen „Wach auf"-Choral hatte Konring in großer Ergriffenheit ge-
winkt, eine Pause zu machen. Ans Fenster war er getrcten und hatte stumm
hinausgcschaut, an die altersgrauen, steinernen Wände seincr Kircho hinauf
und lange starr und unverrückt hinein ins große mittlere Schalloch über dcr
llhr. Und zuletzt, nach Sachscns Schlußlied, hatte er ungcstüm beide Hände
des Spiclers gepackt und kräftig geschüttelt, immer wieder von neuem und ganz
wie abwesend gestammelt: „Diese -Meistersinger--Noten ... lieber Kollege ..
bchalt' ich, lcih' ich Jhnen ab ... Damit muß ich niorgen gleich zu meinem
Pastorenl"
Schräg vom hohcn Felde herüber gleiten die lctztcn Strahlen der sinken-
den Sonne über Fichtenhagen hin- Wie von Gold übergosscn schimmern die
Eichenkronen, der Wipfcl dcr alten Kirchenlinde, und auf die roten Wellzicgel
des Turmdachcs strahlt warm die Sonne ihren Scheidcgruß. Hollunder,
Flicder und Jasmin, Lilien, Goldlack, Nclken, die ersten Monalsroscu blühen
im Schulgarten, er haucht bcrauschenden Duft. Auf allcn Beetcn, im Busch-
und Strauchwerk am Zaun hin, überall die üppigste Blütcnpracht. Frühling,
Frühling ist's draußenl Frühling, o Wonnc! Um die Wette singen die Finken,
Rotschwänzchcu, Grasmückcn, Sprehen und Amseln in den Eichen, Pappcln,
Ebcreschcu, in dcu Obstbäumen, in den Hccken.
Nicht nur dcm Kantor — allen. so scheint cs, ist die Musik zuletzt doch
zu Herzen gcgangen. Konring schrcitet vom Klavicre langsam wieder ans
Fenster. Er ösfnet mcchanisch beideFlügel. Köstlicher, würziger Duft, erfrischcnde
Abendkühle strömt hcrcin in die dumpfige Schulstube.
Endlich wcndct er seincn ehrwürdigcn grauen Kopf und flüstert: „Wciscn
Sie 'mal her, Berkcbusch, lieber Kollcgc, wie waren doch die Worte:
. Wie duftet doch dcr Flieder
So mild, so stark und ooll!
Mir löst es wcich die Glieder,
Will, daß ich was sagen soll. —
Was giltS, was ich dir sagen kann?
Bin gar ein arm einfältig Mann!- "
Lauge schweigt er dann wieder, liebevoll blickt scin blaucs hcllcs Auge.
Dann neigt er lauschcnd dcn Kopf. Die Amseln dr'außen! Ein leises, seines
Lächeln trautcr Erinncrung spiclt um scinc Lippcn und traumverlorcn spricht
cr in sich hinein: „Ia, wie Vogelgcsang im Mai!" ...
Plötzlich richtet Meister Konring sich cncrgisch auf und stuvst kräftig mit
dcr Faust auf das Fensterbrett: „Schriftführer, Kollegc Alfkc, schnell, stipp'
man dcinc Fedcr noch 'mal ein — zu Protokoll: aus der Himmclfahrtskoiifci enz
iu Fichtcnhagcn den 22. Mai anno 1882 dic »Mcistersiiigcr« von Nichard
Wagner mit grvßcr Stimmcnmehrheit zulctzt doch noch anerkannt."
,S»
— ZiZ
2. Ianuarheft lyoi