brecht betont ihm gegenüber mit aller Energie den innigen Zusammen-
hang zwischen der dramatischen Handlung und den Charakteren.
Es genügt für die Zwecke des Dramas nicht, „überhaupt Charaktere darzustellen,
und seien es die interessantesten, edelsten, schönsten, und seien sie mit noch so
viel Kunst Und Feinheit der Darstellung bis ins Jnnerste und Letzte erschöpft",
ebenso wie die Darstellung ruhender Zustände auf der Bühne befriedigen kann:
„dramatisch ist ein Charakter nur dann, wenn er uns etwas oon Willens-
vorgängen zu sehen gibt, die mit Energie zu Konfliktcn treibeu, diese Konflikte
durchfechten und in ihne.n dem Menschen sein Schicksal bereiten — so oder so,
tragisch oder komisch." Daß diese Charaktere etwas „bedeuten" müssen, ist
selbstverständlich: „Bedeutung natürlich nicht in dem Sinn, daß sie irgend
welche äußerlich hervorragende Stellung im Leben einnehmen .... oder datz
sie geistig oder sittlich besonders hervorragende Persönlichkeiten notwendig sein
inüßten. Jn diesem Sinne bedeutende Persönlichkeiten sind sogar nicht selten
in hervorragendem Maße undramatisch. Bedeutung bedarf eiu dramatischer
Charakter vielmehr in dem Sinn, daß er uns menschlich eben etwas „bedeute",
das heißt, daß in der Anschauung seiner Willensprozesse sich uns etwas enthülle
vom wahren Wesen des menschlichen Wollens, von dem, was im gegebenen
Einzelfall noch so viel individuelle Besonderheit haben mag, was uns aber
doch — im Großen oder im Kleinen — etwas Wichtiges und Jnteressantes
sehen und mitfühlen läßt vou dem allgemeinen Lebenswillen, der durch die
Menschheit geht — nicht nur für den Augenblick und irgendwelchen Zufall,
sondern für die Dauer mit einer Notwendigkeit der Menschennatur. Jn diesem
Sinn wird ein wirklicher dramatischer Charakter immer typisch und
individuell zugleich sein, die Gattung repräsentieren, gerade indem er
ein scharf umrissenes Bild eines JndividuumS gibt." Gegenübor der Vorstellung
des platt Alltäglichen oder irgendwie Besondereu (man denke nur an Gerhart
Hauptmann), sind solche Erinnerungen wirklich angebracht, natürlich auch
gegenüber den schwächlichen Darstellungen blutloser Typen und Allgemeinheiten.
Doch ich will hier abbrechen, da ich dem gehaltvollen und vielseitigen
Duche doch nicht in allen Einzelheiten folgen kann. Nur über den praktischen
Zroeck, den sein Verfasser bei seinem Versuche verfolgt, doch noch einige Worte.
Er wendet sich damit an alle, die es angeht, und das sind nicht nur die
Männer vom Fach, Dramaschreiber, Theatermenschen, Kritiker und Aesthetiker:
vor allen möchte er die wahrhaft Gebildeten, die ernsten Freunde der drama-
tischen Kunst zu selbständigem Nachdenken über diese, sür eine ästhetische
Erziehung unseres Volkes so wichtigen Fragen anregen, ihnen zu einem wohl-
begründeten Standpunkt in diesen Dingen verhelfen und den Schwankendeu
und Verstimmten zeigen, daß sie ihre wohlberechtigte Abneigung gegen das
heutigeTheater nicht auf das Drama selbst übertragen dürfen. Er verkennt
nicht die Bedeutung eines urteilsfühigen, bcgriffsklaren, empfänglichen Publikums
für die Förderung des echten dramatischen Schaffens; er weiß, daß ein der-
artiges Publikum von gründlich Gebildeten zwar kein großes Drama schaffen
kann, wenn die dramatischen Dichter dazu fehlen, „uber es könnte durch nach-
drückliche Aufmunterung und Ablehnung eine schärfcre Sonderung fördern
helfen zwischen dem, 'was nur blendende Scheindramatik und üußerlich thea-
tralische Verzerrung des Dramatischen ist." Daß die tonangebenden groß-
städtischen Premierenbesucher dieses ideale Publikum nicht sind, das braucht
nicht erst bewiesen zu werden. Wo ist es aber vorhanden? Wir brauchen
nicht zuZ'uchen, es existiert nicht. Richard Wagners energischer Genius hat sich
llunstwart
52 —
hang zwischen der dramatischen Handlung und den Charakteren.
Es genügt für die Zwecke des Dramas nicht, „überhaupt Charaktere darzustellen,
und seien es die interessantesten, edelsten, schönsten, und seien sie mit noch so
viel Kunst Und Feinheit der Darstellung bis ins Jnnerste und Letzte erschöpft",
ebenso wie die Darstellung ruhender Zustände auf der Bühne befriedigen kann:
„dramatisch ist ein Charakter nur dann, wenn er uns etwas oon Willens-
vorgängen zu sehen gibt, die mit Energie zu Konfliktcn treibeu, diese Konflikte
durchfechten und in ihne.n dem Menschen sein Schicksal bereiten — so oder so,
tragisch oder komisch." Daß diese Charaktere etwas „bedeuten" müssen, ist
selbstverständlich: „Bedeutung natürlich nicht in dem Sinn, daß sie irgend
welche äußerlich hervorragende Stellung im Leben einnehmen .... oder datz
sie geistig oder sittlich besonders hervorragende Persönlichkeiten notwendig sein
inüßten. Jn diesem Sinne bedeutende Persönlichkeiten sind sogar nicht selten
in hervorragendem Maße undramatisch. Bedeutung bedarf eiu dramatischer
Charakter vielmehr in dem Sinn, daß er uns menschlich eben etwas „bedeute",
das heißt, daß in der Anschauung seiner Willensprozesse sich uns etwas enthülle
vom wahren Wesen des menschlichen Wollens, von dem, was im gegebenen
Einzelfall noch so viel individuelle Besonderheit haben mag, was uns aber
doch — im Großen oder im Kleinen — etwas Wichtiges und Jnteressantes
sehen und mitfühlen läßt vou dem allgemeinen Lebenswillen, der durch die
Menschheit geht — nicht nur für den Augenblick und irgendwelchen Zufall,
sondern für die Dauer mit einer Notwendigkeit der Menschennatur. Jn diesem
Sinn wird ein wirklicher dramatischer Charakter immer typisch und
individuell zugleich sein, die Gattung repräsentieren, gerade indem er
ein scharf umrissenes Bild eines JndividuumS gibt." Gegenübor der Vorstellung
des platt Alltäglichen oder irgendwie Besondereu (man denke nur an Gerhart
Hauptmann), sind solche Erinnerungen wirklich angebracht, natürlich auch
gegenüber den schwächlichen Darstellungen blutloser Typen und Allgemeinheiten.
Doch ich will hier abbrechen, da ich dem gehaltvollen und vielseitigen
Duche doch nicht in allen Einzelheiten folgen kann. Nur über den praktischen
Zroeck, den sein Verfasser bei seinem Versuche verfolgt, doch noch einige Worte.
Er wendet sich damit an alle, die es angeht, und das sind nicht nur die
Männer vom Fach, Dramaschreiber, Theatermenschen, Kritiker und Aesthetiker:
vor allen möchte er die wahrhaft Gebildeten, die ernsten Freunde der drama-
tischen Kunst zu selbständigem Nachdenken über diese, sür eine ästhetische
Erziehung unseres Volkes so wichtigen Fragen anregen, ihnen zu einem wohl-
begründeten Standpunkt in diesen Dingen verhelfen und den Schwankendeu
und Verstimmten zeigen, daß sie ihre wohlberechtigte Abneigung gegen das
heutigeTheater nicht auf das Drama selbst übertragen dürfen. Er verkennt
nicht die Bedeutung eines urteilsfühigen, bcgriffsklaren, empfänglichen Publikums
für die Förderung des echten dramatischen Schaffens; er weiß, daß ein der-
artiges Publikum von gründlich Gebildeten zwar kein großes Drama schaffen
kann, wenn die dramatischen Dichter dazu fehlen, „uber es könnte durch nach-
drückliche Aufmunterung und Ablehnung eine schärfcre Sonderung fördern
helfen zwischen dem, 'was nur blendende Scheindramatik und üußerlich thea-
tralische Verzerrung des Dramatischen ist." Daß die tonangebenden groß-
städtischen Premierenbesucher dieses ideale Publikum nicht sind, das braucht
nicht erst bewiesen zu werden. Wo ist es aber vorhanden? Wir brauchen
nicht zuZ'uchen, es existiert nicht. Richard Wagners energischer Genius hat sich
llunstwart
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