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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 14,1.1900-1901

DOI Heft:
Heft 2 (2. Oktoberheft 1900)
DOI Artikel:
Göhler, Georg: Musik-Geschichte, [4]
DOI Seite / Zitierlink:
https://doi.org/10.11588/diglit.7961#0071

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pg,res gilt, so mit einander verbinden, daß sie einen unanfechtbaren
Satz ergeben. Es ist selbstverständlich, daß hier die beabsichtigte Wirkung
die sein muß, ein kunstvolles Gewebe verschiedener Stimmen herzustellen,
in dem der Lauf jeder einzelnen den höchsten melodischen Anforderungen
genügt und in der Verschlingung deutlich erkennbar bleibt. Da die mehr-
stimmige Musik des Mittelalters ausging von der ohne ergänzende Har-
monien gehörten Einzelmelodie, da sie auf den Begriff der Harmonie
nicht kommen konnte, solange sie nicht von den Kirchentonarten zu dem
Dur-Moll-System übergegangen war, so mußte diese zweite Art der
Mehrstimmigkeit die sein, auf welche die gesamte Entwicklung hinzielte.
Und auf ihrem Höhepunkte hat sie thatsächlich dies Ziel erreicht, sie hat
die kontrapunktische Musik bis zu der Vollkommenheit gebracht, daß nicht
bloß jede Stimme ihre Selbständigkeit hat, sondern in dem kunstvollen
Gewebe auch stets zu verfolgen bleibt. Um zu dieser Höhe zu kommen,
war selbstverständlich eine lange, mühselige Wanderung nötig.

Welche bedeutsamen Leistungen dabei die Theorie in zahlreichen
Traktaten zu verzeichnen hat, das interessiert den Laien kaum; aber er
darf nie vergessen, daß auch auf dieser neuen Bahn die Musik lange
Zeit noch nicht Kunst, sondern Wissenschaft war. Es handelte sich
zunächst um Formalprobleme, um Gewinnung der Herrschaft über die
Technik, es waren Lehrjahre, in denen mit dem Material gerungen
wurde, für die also ästhetische Forderungen, Fragen des Gefühls noch
keine fundamentale Bedeutung hatten. Jn der ersten Zeit war die Auf-
gabe einfach die, zu einer gegebenen Stimme, meist einer gregorianischen
Melodie, eine, später zwei Gegenstimmen zu bilden. Jn dieser Drei-
stimrmgkeit verharrte der Satz lange Zeit. Da man bald instinktiv
sühlte, daß das Wesen des Kontrapunkts auf der verschiedenen Lage der
Schwerpunkte und dem Unterschiede der Bewegung in den einzelnen
Stimmen beruhte, so war die erste Forderung, den einzelnen Stimmen
sestes rhythmisches Gefüge zu geben und die schriftliche Fixierung der
Tonwerte, der Mensur (Messung) zu ermöglichen.

So kam man zur Erfindung der M e n su r a l n o t e, die dann
der ganzen Musik jener Zeit, der M e n s u r a l m u si k, den Namen
gab. Mit der Feststellung der Gültigkeitsdauer von Noten bestimmter
Form und der Einführung der Taktzeichen konnte man nun genau be-
stimmen, in welchcn Maßen sich die einzelnen Stimmen bewegen sollten.
Es ist natürlich, daß sie zunächst möglichst gleichmäßig fortschritten, und
diese unserer homophonen Musik ganz ähnliche Schreibweise hätte gewiß
auch zum harmonischen Satz geführt, wenn eben nicht das Tonmaterial,
das den Kirchentönen entnommen war, die Aufstndung des Begriffs der
Harmonie unmöglich gemacht hätte. So suchte man vielmehr bald die
Kunst darin, die gegebene Stimme von anderen umspielen zu lassen, die
melodisch wie rhythmisch mit jener möglichst wenig verschmolzen. Auch
für den Zusammenklang von völlig frei erfundenen Stimmen blieb dann
diese Forderung maßgebend.

Die Anfänge der kontrapunktischen Musik pflegt man neuerdings
in England und Frankreich zu suchen, von wo aus sie sehr bald nach
den Niederlanden übergeführt wurde. Diese wurden nun die eigent-
liche Pflegestätte für die kontrapunktische Kunst, und die Niederländer
gelten somit als die ersten, deren Musik den Anforderungen, die man

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