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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 14,1.1900-1901

DOI Heft:
Heft 3 (1. Novemberheft 1900)
DOI Artikel:
Göhler, Georg: Musik-Geschichte, [5]: Mensuralmusik
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https://doi.org/10.11588/diglit.7961#0111

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alle seine Phrasen derartig rein nach den melodischen Höhepunkten
gliedern und nur dem Akzent der Worte folgen, daß alle musika-
lischen Linien weit mehr, als wir das jetzt noch verlangen, gänzlich
unabhängig von dem Hilfsmittel des Taktes erscheinen. Das scheint
unwichtig und vor allen Dingen in diesen Aufsätzen überflüssig. Aber
ich möchre bitten, immer im Auge zu behalten, was ich in dem zweiten
Aufsatz als meine Absicht hingestellt habe: die wesentlichen Eigentümlich-
keiten der Kunstiverke jeder einzelnen Epoche zu betonen und die Hinder-
nisse aus dem Weg zu räumen, die dem Verständnisse der alten Knnst
durch das Ausgehen von unserem doch eben auch zeitlich beschränkten
Standpunkt zu erstehen pflegen.

3. Eine sehr wichtige Frage, über die schon manches bittere Wort
gesprochen worden ist, ist dis: Kannten die Alten das, was wir „Vor-
trag" nennen, gibt's bei ihnen Begriffe wie piano, torte, crs8osväo,
ritaräLnäo u. s. w.? Bekanntlich fehlen in den Stimmheften alle diese
Bezeichnungen gänzlich. Müssen wir daraus schließen, daß man das,
was sie für uns andeuten, überhaupt nicht kannte? Jch glaube kaum.
Man muß bei der alten Mensuralmusik doch stets bedenken, daß sie für
geschulte Chöre geschrieben war, daß es nur eine Art Studium für sie
gab, nämlich den lebendigen Unterricht in den sehr zahlreichen Singstunden
und daß an die Zukunft bei der Aufzeichnung der Musik gar nicht gedacht
wurde. Der Musiker des j6- Jahrhunderts — ich komme darauf noch
zurück — schrieb seine Chöre nicht, um unsterblich zu werden und im
Jahre sHOO einem themasüchtigen Doktoranden Stoff zu einer gelehrten
Abhandlung zu geben, sondern weil er die Werke für seine Thätigkeit
als Chorleiter brauchte, weil eine Unmenge Musik verbraucht wurde
und man nicht wie heutzutage ein paar Repertoirstückchen Saison für
Saison herunterspielte, sondern den neuen Tag mit einem neuen Liede
begrüßte. Da war Alles fürs Leben, für den Gebrauch geschrieben, und
genau wie man ohne Partituren auskam, kam man auch ohne Vortrags-
zeichen aus. Wenn man eine achtstimmige Messe mit einem Chore
aufführen konnte, ohne daß es eine Partitur gab, wenn die Sänger,
die nichts vor sich hatten, als ihre Stimme ohne Taktstriche, imstande
waren, solche verschlungene Kunstwerke auszuführen, werden sie wohl auch
die schriftlichen Anweisungen über den Vortrag haben entbehren können.
Natürlich war für jene Zeiten die musikalische Struktur das Wesentliche;
aber genau wie die Maler doch nicht bloß Linien komponierten und die
Dichter nicht bloh Reime ausklügelten, genau so lebte doch auch in der Musik
Gefühl, das sich eben beim Vortrag durch den Wechsel der Tonstärke und
der Schnelligkeit ausdrücken läßt. Man bleibe mir mit der sogenannten
Objektivität der alten Kirchenmusik vom Halse! Die paßt für einige von
den einfachenStücken, dieman immerwieder alsMusterhinstellt. Wer einmal
sehen will, was um das Jahr j530 bereits an Ausdruck, an realistischem
Ausdruck geleistet wurde, der mache sich die Freude und sehe sich den
Psalm 3 von David Köler an, der bei Breitkopf <L Härtel im Neudruck
erschienen ist. Wer da im Anfang des zweiten Teils das: „Jch lieg'
und schlaf", bei dem die Stimmen (wie in der Haydnschen Abschieds-
symphonie) aufhören und einschlafen, dann die Generalpause für den
Schlaf und die thematisch ebenso einfache wie mächtige und musikalisch
meisterhafte Jnterpretation der Worte: „und erwache" sieht und trotzdem

Novemberheft tsoo
 
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