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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 14,1.1900-1901

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Heft 4 (2. Nevemberheft 1900)
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Avenarius, Ferdinand: Sprechsaal: Subjektivität u.s.w.
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https://doi.org/10.11588/diglit.7961#0159

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zu hören — Gespräche über ihr Wollen und Schaffen höre ich kaum je.
Warum also schreiben so viele öffentlich über diese Dinge? Um sie zu klären?
Nein; denn keiner hört den andern, jeder spinnt seinen eigenen Bindfaden.
Kurzum: jene eifrigen Schriftsteller sind die Schauspieler, welche heute
überall sich selber aufführen. Durch deren Treiben ist heute unser ganzes
geistiges Leben bis in seine Fundamente hinein verlogen und verbogen rvorden.

Es wird am besten sein, ein paar Beispiele zu nennen. Der Name
Friedrich Nietzsches ist heute in aller Munde. Man sollte meinen, die Wcrke
dieses Mannes enthielten für ehrliche Anhänger genug zu positiver Arbeit Auf-
forderndes. Sein Zerfall mit Wagner ist objektiv nicht begründet worden,
seine Stellung zu Schopenhauer, zum Christentum, seine Moraltheorie bedingen
Folgerungen, die gezogen werden müssen. Dagegen lese man den — ja, ich
muß sagen: Blak, in welchem subjektives Empfinden üherall seinen Rauch über
Nietzsche gießtl Das Nietzsche-Archiv arbeitet unter Hochdruck, um unveröffent-
lichte Werke Nietzschcs zu finden, dann gerät man sich darüber in die Haare
und ruft die Oesfentlichkeit zu Hilfe für seinen häuslichen Lärm. Die Literatur
über den Herausgeber-Streit ist das „Modernste", was man lesen kann; Leute,
die berühmt werden wollen, zeigen sich uns in allen Attitüden — was aber
dabei über Nietzsche zu Tage gefördert wird, ist teils belanglos, teils einfach
falsch. Das einzige Stückchen Resultat, Horneffers Broschüre über Nietzsches
Wiederkunftslehre, die bei dem Streite endlich herauskam, bedeutet, wie sich
klar beweisen läßt, eine Schwerpunktsverschiebung in Nietzsches Lehre, die einfach
einen falschen Gesamtanblick schafft. So wird hier Nietzsche .individuell"'
gefördert; d. h. eine Handvoll Leute dokumentiert öffentlich ihre Großmannssucht.

Oder wenden wir uns einem andern Felde zul Hier steht Max Klinger
da als ciner, dessen Bedeutung eben nicht übersehen werden kann. Sofort
stellt sich ein Franz Hermann Meißner ein, um ohne Unterbrechung neue Suppen
mit Klingers Gedanken zu kochen, so lange, bis eine große Verlagsfirma auf
ihn hineinfällt und ihn den Text zu einem großen Bilderwerk über Klinger
schreiben läßt. Der Kunstwart hat Herrn Meißner ja schon wegen seiner klaren
Subjektivität, mit der er auf Klingers Blättern Weiber für Männer hält, früher
einmal beleuchtet.

Eine weitcre Subjektivilät: Richard Muther. Schumann hat ihn vor
kurzem im Kunstwart vorgeführt bei so törichten Fehlgriffen, daß ich heute
über ihn nichts mchr sagen will.

Gehen wir lieber gleich ins Allgemeine und vergegenwärtigen wir uns:
wir haben heute in den Gebieten dcr Kunst, Literatur und Philosophie den
Boden klarer, objektiver Forschung arg verloren. Einige Sturmgeister haben
Beifall gefunden, als sie die Verknöcherung alter Theorien bloßstellten und kühn
ein subjektives, keiner Theorie abgerungenes Urteil aussprachen. Dieses Bei-
spiel hat verführt zu dem verwirrenden Zustand, daß überall ernste Forschung,
objektive Arbeit ungethan bleibt und die Subjektivität des Urteils als solche
bis zum Bizarren erstrebt wird. Wer subjektiv, individuell redet, meint, auch
noch beim Blödsinnreden bedeutend zu sein. Selten treffen wir noch ein
Strebcn einfach nach klarer Einsicht; und wenn zwei Kritiker über des
Herrn L. Leistungen v.erschiedener Meinung sind, so versucht nicht einer, den
andern zu widerlegen, sondern noch glänzender als der andere über Herrn T.
zu schreiben. Hicrvurch haben alle Schreibersleute sich selber ganz unerträglich
in den Vordergrund gerückt. Sie wollen ihre Person, ihr subjektives Empfinden,
ihre herrliche Behandlung des Themas mehr vom Publikum verständnisvoll

2. Novemberheft tyoo
 
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