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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 14,1.1900-1901

DOI Heft:
Heft 8 (2. Januarheft 1901)
DOI Artikel:
Bartels, Adolf: Von deutscher Literatur
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https://doi.org/10.11588/diglit.7961#0373

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und dabei seelischer und sittlicher war als die alte, mehr eine Kultur
des Gehalts als der Form, niemals gleichmäßig, immer von starken
Gegensätzen erfüllt, kampfdurchtobt, scheinbar oft unterbrochen, aber
zuletzt doch reich, groß und mächtig durch die Fülle der verschieden-
artigsten Jndividuen, der großen Persönlichkeiten, die der kaum je aus-
setzenden Volkstriebkraft entsprossen.

Auch die südlichere Heimat der Germanen, das jetzige Deutschland,
war einmal entschieden nordisches Land, und das Volk mußte die alten,
die angeboren zu nennenden Charakterzüge hier wohl bewahren. Zwei
graue Meere begrenzten das Land, die Meere, über die sie wahrscheinlich
gekommen waren, und die die Verbindung mit den nordischen Brüdern
immer aufrecht erhielten, namentlich das eine, das germanisch genannte
Meer von ungeheurer Wildheit, tückisch, unberechenbar und daher auf
den Charakter seiner Anwohner von stärkstem Einfluß. Das Land selbst,
von unermeßlichen Wäldern und Sümpsen bedcckt, im Norden völlig
flach, in der Mitte von rauhen Bergen durchsetzt, überall kalt und neblig,
verriet noch nicht, daß es einst ein Kornland sein werde: noch war es
eher von wilden Tieren, von Ur und Elch, Bär und Wolf beherrscht
als von Menschen. Und diese Menschen sondern sich in zahlreiche größere
und kleinere Stämme, denen Jagd und Viehzucht zum Unterhalt und
der Krieg gegeneinander zur Lust dient, — alles in allem ein gewal-
tiges Geschlecht, dem die Niesen- und Drachenkämpfe der Vergangenheit
immer lebendig bleiben, und das sich den andringenden Sturmfluten
mit seinen Schilden entgegenwirft. Kein Wunder, daß solche Germanen
auf ihrem Heimatboden dann weder die römische Kriegskunst noch die
leise eindringende römische Kultur wirklich bezwingen kann: sie bleiben,
was sie sind, ob sie aus Jägern und Herdenzüchtern auch endlich Acker-
bauer werden, und ob sich aus dem Gewimmel der kleineren Stämme
die großen zusammenschließen, deren Name und Art bis auf diesen Tag
dauert: Franken und Sachsen, Schwaben und endlich Bapern, daneben
noch, einheitlicheren Ursprungs, Fricsen und Thüringer. Dann braust
der große Sturm der Völkerwanderung vorüber, auch den von ihm kaum
berührten Stämmen unauslöschliche Erinnerungen zurücklassend, und nun
beginnt, während sich, zunächst unter der Vorherrschaft des frünkischen
Stammes, langsam ein deutsches Volk bildet, das Eindringen des Christen-
tums und damit abermals der römischen Kultur, die sich freilich jetzt
nur noch als eine äußere, von ihrem alten Geist längst verlassene dar-
stellt. Diesmal wird sie aufgenommen, aber nur als die Handhabe zur
Schaffung einer neuen, eben der germanischen Kultur, deren Hauptsitz
für alle Zeiten Deutschland wird, das Land im Herzen Europas, das
sich jetzt bis tief in den Grundstock des Weltteils, die Alpenberge hinein
dehnt und zwischen Süd und Nord, zwischen West und Ost den Vertrieb
der materiellen und geistigen Güter vermittelt. Aber das Beste gibt cs
immer aus Eigenem. Denn unzerstörbar erweisen sich allezeit die
Wurzeln germanischen Volkstums: Unter wechselnden Schicksalen, wie sie
größer und schwerer in Glück und Unglück wohl kaum ein Volk betroffen,
bleibt das germanische Urwesen bestchen, führen die, starken Gegensätze
der Natur und der Naturen immer neue erbitterte äuhere und innere
Kämpfe herbei, die volle harmonische Bildung kaum je aufkommen lassen,
wohl aber immer wieder Selbständigkeit, Eigenark, Grüße. Unsere
Kunstwart

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