auch die Form des von ihr bewohnten Körpers nach ihrem Wohlgefallen
bildete. Hat sie nun wieder einmal mittelst der Hände einen mensch-
lichen Körper zu machen, so wiederholt sie gern den, den sie schon
zuvor erfand."
Es finden sich in dem Buch über die Malerei einige Natur-
schilderungen von hohem Glanz der Sprache. Was ich aber mehr an
denselben bewundere, ist die Geisteskrast, mit der Lionardo die Schönheit
der Schilderung verbindet mit einer vollständigen llebersicht über das/
was zu einer Situation gehört, die wir etwa mit dem Stichwort „eine
Schlacht" oder „ein Ungewitter" bezeichnen. Hier zeigt sich ein für viele
Generationen sammelnder Geist. Jn seinen Schilderungen einer Schlacht
finden sich alle jene Momente aufgezählt, die mehrere Jahrhunderte
hindurch von den Künstlern als wesentliche Bestandteile eines Schlachten-
gemäldes betrachtet wurden und die von dem Durchschnittskünstler durch-
aus nicht gefunden werden, solange er auf seine eigenen Beobachtungen
allein baut, da vielmehr unsere Zeit beweist, datz man alles darstellt,
was unwesentlich an einer Schlacht ist und alles Wesentliche vergißt.
Jch habe mir, lange ehe ich Lionardos Buch las, stets gcdacht, datz die
packenden Darstellungen des Sturmes, der alles Stillestehende bewegt
und das Bewegte zur Eile oder zum Widerstand trcibt, der mit dem
Meer, den Wolken, Staubsäulen und Blättern gewaltsam verfährt, datz
solche Darstellungen, wie wir sie häufig in Museen alter Kunst finden,
niemals hätten zustande kommen können, wenn nicht viele Künstler-
generationen in gemeinsamer Arbeit die Elemente der Erscheinung, die
wir Sturm nennen, ausgeschieden und gesammelt hütten, um sie in
immer größerer Zahl in ein Werk zusammenzupressen, bis die Wucht
der geistigen Konzentration und Hinschleuderns einer grotzen Zahl
gelüuterter Beobachtungen den Geist dcs Beschauers hinritz, dah cr dcn
Atem des Sturms als Bewegung seines eigenen Jnnern empfand.
Fassen wir die Lehren Lionardos kurz zusammen: Wiewohl alle
Gegenstände sich durch besondere Eigcnschaften von einander unterscheiden,
ist ihre Erscheinung doch nur leise Abweichung von einer beharrcnden,
ererbten Form, die den Mitgliedern der Gattung gemcin ist. Die
typische Form der Dinge kann gclehrt werden. Jede ncue Bcobachtung
mutz ihr angegliedert werden. Man mutz die typischen Formen aus-
wendig wissen und jederzeit entwerfen können, damit sie im Wcchsel der
Beleuchtung nicht verloren gehen, sondern stets hindurchschimmern durch
den Schleier von Dunkelheit, Halbdunkel, Schatten und Licht. Wird
Gesetzlichkeit der Form durch die Art der Beleuchtung undeutlich, so wird
üas Gesetz von Licht und Schatten um so deutlicher heroortretcn müssen,
wenn das Gcmälde nicht vcrschwimmen soll. Das Gesetz von Licht und
Schattcn mutz daher studiert werden, bis es eine Funktion der Phantasie
des Künstlers wird. Das Studium darf kcin begrifflich Abstraktes sein,
sondern von wirklichen Naturerscheinungen, von typischen Beleuchtungen,
Sonnenlicht, Ncbellicht, Zimmerbeleuchtung, Abendstimmung ausgehend
suche man die stets wiederkehrende Grundlage der Erscheinung. Selbst die
flüchtigen Bewegungen und das Miencnspiel lassen sich auf einfachste Ttzpen
zurückführen, weil aus dem Mechanismus des Kürpers sich gewisse
Gruppen von Bcwegungen ableitcn lassen und iveil alle geistigcn Er-
regungen, indem sie nach Ausdruck ringen, sich einer bestimmten Gruppe
Kunstwart
V>8
bildete. Hat sie nun wieder einmal mittelst der Hände einen mensch-
lichen Körper zu machen, so wiederholt sie gern den, den sie schon
zuvor erfand."
Es finden sich in dem Buch über die Malerei einige Natur-
schilderungen von hohem Glanz der Sprache. Was ich aber mehr an
denselben bewundere, ist die Geisteskrast, mit der Lionardo die Schönheit
der Schilderung verbindet mit einer vollständigen llebersicht über das/
was zu einer Situation gehört, die wir etwa mit dem Stichwort „eine
Schlacht" oder „ein Ungewitter" bezeichnen. Hier zeigt sich ein für viele
Generationen sammelnder Geist. Jn seinen Schilderungen einer Schlacht
finden sich alle jene Momente aufgezählt, die mehrere Jahrhunderte
hindurch von den Künstlern als wesentliche Bestandteile eines Schlachten-
gemäldes betrachtet wurden und die von dem Durchschnittskünstler durch-
aus nicht gefunden werden, solange er auf seine eigenen Beobachtungen
allein baut, da vielmehr unsere Zeit beweist, datz man alles darstellt,
was unwesentlich an einer Schlacht ist und alles Wesentliche vergißt.
Jch habe mir, lange ehe ich Lionardos Buch las, stets gcdacht, datz die
packenden Darstellungen des Sturmes, der alles Stillestehende bewegt
und das Bewegte zur Eile oder zum Widerstand trcibt, der mit dem
Meer, den Wolken, Staubsäulen und Blättern gewaltsam verfährt, datz
solche Darstellungen, wie wir sie häufig in Museen alter Kunst finden,
niemals hätten zustande kommen können, wenn nicht viele Künstler-
generationen in gemeinsamer Arbeit die Elemente der Erscheinung, die
wir Sturm nennen, ausgeschieden und gesammelt hütten, um sie in
immer größerer Zahl in ein Werk zusammenzupressen, bis die Wucht
der geistigen Konzentration und Hinschleuderns einer grotzen Zahl
gelüuterter Beobachtungen den Geist dcs Beschauers hinritz, dah cr dcn
Atem des Sturms als Bewegung seines eigenen Jnnern empfand.
Fassen wir die Lehren Lionardos kurz zusammen: Wiewohl alle
Gegenstände sich durch besondere Eigcnschaften von einander unterscheiden,
ist ihre Erscheinung doch nur leise Abweichung von einer beharrcnden,
ererbten Form, die den Mitgliedern der Gattung gemcin ist. Die
typische Form der Dinge kann gclehrt werden. Jede ncue Bcobachtung
mutz ihr angegliedert werden. Man mutz die typischen Formen aus-
wendig wissen und jederzeit entwerfen können, damit sie im Wcchsel der
Beleuchtung nicht verloren gehen, sondern stets hindurchschimmern durch
den Schleier von Dunkelheit, Halbdunkel, Schatten und Licht. Wird
Gesetzlichkeit der Form durch die Art der Beleuchtung undeutlich, so wird
üas Gesetz von Licht und Schatten um so deutlicher heroortretcn müssen,
wenn das Gcmälde nicht vcrschwimmen soll. Das Gesetz von Licht und
Schattcn mutz daher studiert werden, bis es eine Funktion der Phantasie
des Künstlers wird. Das Studium darf kcin begrifflich Abstraktes sein,
sondern von wirklichen Naturerscheinungen, von typischen Beleuchtungen,
Sonnenlicht, Ncbellicht, Zimmerbeleuchtung, Abendstimmung ausgehend
suche man die stets wiederkehrende Grundlage der Erscheinung. Selbst die
flüchtigen Bewegungen und das Miencnspiel lassen sich auf einfachste Ttzpen
zurückführen, weil aus dem Mechanismus des Kürpers sich gewisse
Gruppen von Bcwegungen ableitcn lassen und iveil alle geistigcn Er-
regungen, indem sie nach Ausdruck ringen, sich einer bestimmten Gruppe
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