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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 14,1.1900-1901

DOI issue:
Heft 10 (2. Februarheft 1901)
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Gregori, Ferdinand: Schauspielsehnsucht
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https://doi.org/10.11588/diglit.7961#0465

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durch Beschränken und Ordnen dcr Formindividualitäten den Typus
Weinblatt. Jst der Künstler außerdem noch eine Persönlichkeit, so fügt
er dem Typus noch einen Schuß Eigenart aus der eigenen Seele zu,
der von allen Typen des Weinblattes, die von anderen Zeichnern ge-
funden worden sind und später gefunden werden, den seinigen unterscheidct.

Der stilisierende Dichter betrachtet seinen Stoff aus einer Entfer-
nung. die kleinliche Zufälligkeiten verschwinden macht. Er trifft eine Aus-
wahl unter dcn Eigenschaften seiner Geschöpfe. die die dichterischen Ab-
sichten klar erkennen läßt. Er verzichtet auf die Einzeichnung der Pro-
tuberanzen. um die Kugelgestalt seines Werkes nicht unklar zu machen.

Der Schauspieler des Stilstücks muß die Arbeit des Dichters rekon-
struicren und noch einmal leisten. Aus der Fülle seiner eigenen Er-
fahrungen. seiner Beobachtungcn muß er die Züge zusammentragcn, die
seinem Dichter Modell gestanden, muß er sie beschränken und ordnen,
bis sie sich mit der Unterlage decken. Und ist auch er überdies eine Per-
sönlichkeit, so wird seine Darstellung nicht nur dem Typus der Bühnen-
gestalt und der JndividualitSt des Dichters gerecht wcrdcn, sondern es
wird ihr noch ein zweiter ganz persönlichcr Reiz anhaften.

Jch weiß, daß ich damit nichts Neues sagc, und jeder Kollcge
wird mir mit selbstgesälliger Miene Recht geben. Und doch leistet der
Schauspieler im allgcmcincn nur einen ganz kleinen Teil der Nrbeit, die
ich hier von ihm verlange. Aus dicsem Grunde dürfen etwas engherzige
Vcrfechter der Klcinkunst sagen: die Anfänger in der Schauspielerei, denen
die geistige Durchdringung, Ersahrung und Technik fehlen, sind in den
Stilstückcn weit erträglicher als in dcn naturalistischen. OrAv sind die
Stilstücke leichter zu spiclen! — Mit nichtcn, meine Herrenl Unsere
klassischcn Dichter strotzen nur von so unendlichcm Reichtum, daß sie selbst
bci der schlcchtesten Darstellung nicht unterzukriegen sind. Die natura-
listischen aber sind ruiniert, wcnn nur ein Tüttelchen ihrer noocllistischen
Parenthesen durch die mangelndc Technik des Anfängers übersehen wird.
Jch sage nicht zuvicl, wenn ich hcute keiner deutschen Bühne die Fähig-
keit zutraue, irgend cin stilistisches Drama großer Herknnfl in solcher
Vollendung herauszubringcn, wie das EDcutsche Theater" einen Gerhart
Hauptmann oder Sudermann ^kreiert".

Unsere jungen Schauspieler kümmcrn sich den Teufcl darum, was
allcs in so eincm Grillparzerschen König Alfonso steckl. Sie reden die
beguem gedruckten Verse herunter, und wcnn es hoch kommt, vcrstehen
sic auch einzelnc odcr sogar allc einzelnen Eedanken, aber dcn Menschen
nachzuschaffcn, aus desstn Brust sich dicse Gedanken Stück für Stück erst
losringen, losringcn müssen, das sällt keinem bci und würde kaum
eincm gelingcn. Leicht ist es wahrhaftig nicht, sich in cinen sremden
Mcnschen aus eincr frcmdcn Zeit einzulcbcn, sich von dcr Schönheit des
Verses und der Gedanken nicht zur lcichtscrtigen Schwärmerei hinreißen
zu lassen. Aber dicsc Sclbstzucht muß geübt wcrdcn. Bcvor wir nicht
die Worte, die wir sprechen, in cincn innigcn Zusammenhang mit dcm
Eharakter bringen, belügen wir die Zuschauer. Wir müssen mit dem
Dichter so verwachscn sein, daß wir für ihn die Verantwortung tragen
künncn.

Wie abcr isi dcm schöncn Ziele näher zu kommen, das hcutc unserc
Sehnsucht ausmacht? Nur auf einem Umwege, dünkt mich. Der schau-

2. Februarhest 1901
 
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