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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 16,1.1902-1903

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Heft 1 (1. Oktoberheft 1902)
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Avenarius, Ferdinand: Kunstgenuß und helfendes Wort
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https://doi.org/10.11588/diglit.7615#0020

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Wie weit kann das Wort dern Kunstgenuß förderlich sein? Das
war die Frage.

Unbesangen, sagte der Maler, unbefangen müsse der Beschauer sein,
wenn er ein Kunstwerk wirklich in sich aufnehmen soll. Ganz gewiß,
Unbefangenheit, Naivetät ist sür den Kunstgenuß das erste Ersordernis.
Aber wer ist denn ohne weiteres unbesangen, der vor Kunstwerke tritt?
Wer neun Bilder besehn hat, sieht der das zehnte noch unbesangen? Und
man ist doch meist ein gebildeter Mann, hat sehr viel gesehen und „schreck-
lich viel gelesen," man tritt nun mit seiner Bildung vor den Maler wie
mit einem Wechsel, dessen prompte Saldierung man wünscht. O weh,
wenn der Maler audre Sorten von Münzen geprägt hat, als einem
bekannt sind — dann nimmt man die Zahlung nicht an trotz aller
„Unbesangenheit." Unbesangenheit — ist sie nicht eigentlich eine rare Sache,
da nun einmal über das Feld unsrer Seele kein Wölkchen sliegt, ohne
zu schatten, und kein lebendiger Staub, ohne sichtbar oder heimlich zu
säen? Ganz unbesangen sind wir gegenüber nichts) Und sind's je
weniger, je mehr wir ersahren und gelernt haben. Bei uns Kultur-
menschen fragt es sich vor Kunstwerken nicht: wie erhalten wir unsre
Unbesangenheit, sondern zunächst einmal: wie bekommen wir sie wieder?
Das also gäbe das erste auf: den Beschauer nach Möglichkeit unbefangen
zu machen. Wegräumen!, heißt es da, dafür zu sorgen, daß zwischen
Kunstwerk und Betrachter so wenig wie möglich in der Blicklinie steht.
Natürlich, da muß man das Mögliche tun, vorgesaßte Meinungen bei-
seite zu drängen, und nichts Unzweckmäßigeres kann es hier geben, als
daß man sie durch neue Zensuren noch vermehrt. Aber nicht nur um
Urteile handelt sich's da, nicht nur um Bewertungen, ob ein Kunstwerk
„gut" oder „schlecht" sei, sondern noch um eine Menge von andern
Hemmungen und Störungen, um ein Verstopsen der ach, so mannich-
saltigen Quellen der Besangenheit gegenüber dem Menschen, dem Künst-
ler, seiner Kunst, seiner Technik, seinem Gegenstande, seinem Denken und
Fühlen. Wo kämen wir hin, wollten wir auch nur die Hauptarten
solcher Besangenheit einzeln anführen?

„Nun," fragt man dem entgegen, „und wo käme der Kunstbesprecher
hin, wollt' er sie nun gar ausschalten? Reichten dann drei Bogen Text
sür jedes einzelne Werk?" Sie reichten selbstverständlich nie und nimmer,
wenn der Besprecher allen möglichen falschen Voraussetzungen vorbeugen
wollte. Aber es ist auch nicht nötig, mit allen zu rechnen. Wir dürsen
nicht nur getrost drauf verzichten, einem Chinesen Max Klingers Beethoven
zu wirklichem Gemütsgenusse zu bringen, wir können auch ruhig dem
Wunsche entsagen, einen modernen Europäer mit einem Schlage zum
Genuß eines Kunstwerkes zu bekehren, dessen Voraussetzungen gar zu
sehr anderen Geistes sind als des seinen. Man gelangt nicht mit
einem Schritte aufs Dach, die Treppe führt stusenweise hinauf.
MancherPunkt allerdings wird auch auf geraden und Wendel-Treppen nie zu
ersteigen sein. Aber gottlob ist in der Praxis das Wegräumen stets
mit einer Tätigkeit verbrüdert und verbunden, die sie erleichtert, ja,
erst möglich macht. Liegt zwischen hier und dem Aussichtspunkt drüben
ein ansteigendes Feld von Gestrüpp, brauch ich dann alles auszuroden?
Genug, wenn ich nur einen Pfad frei machen kann, und das ist doch
sehr viel leichter, vorausgesetzt nur, daß ich selber die Richtung habe!

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Runstwart
 
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