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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 16,1.1902-1903

DOI issue:
Heft 1 (1. Oktoberheft 1902)
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Weber, Leopold: Neues von Wilhelm von Polenz
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https://doi.org/10.11588/diglit.7615#0024

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sich bedingungslos für Zola, Jbsen und hält wenigftens Freundschaft
mit dem Polendichter Chubsky, der in der Weiterentwicklung und Herr-
fchaft der Neurose das Heil der Zukunft erwartet. Da nimmt ihn das
Leben tüchtig in die Behandlung, zeigt ihm einerseits am Beispiel des
verführerischen kühlen Fräuleins von Lavan, wie raffinierter Geift und
Geschmack sich sehr wohl mit nüchterner Frechheit und Herzensroheit
vereinigen können und öffnet ihm andererseits durch das ergreifende
Sterben seiner Geliebten den Sinn für den tieferen Naturwert des
Weibes. Dazu kommt der Einfluß feines Freundes Lehmfink, der ihm
allmählich fein Jdeal „durch Selbstzucht zur Persönlichkeit" nüher bringt.
So lernt denn Berting schließlich kennen, daß das Leben wie die Kunst
seine volle Schönheit erst dem zeigt, der den Genuß in ernstem Erfasfen
und tüchtigem Schaffen, im Ringen mit fich und der Außenwelt fucht.

Was Polenz hierbei an theoretischen Ergebnissen zu Tage fördert,
wird den Lefern des Kunstwarts kaum neu sein: die persönlichkeitni-
vellierenden Eigenschaften des Naturalismus wie die Notwendigkeit der
letzten Sturm- und Drangperiode gegenüber klafsizistischem Epigonentum,
Nietzsches hohe Bedeutung trotz eines manchmal gesuchten Subjektivis-
mus und gelegentlicher artistischer Schwächen, die doktrinaristische Enge
Jbsens bei aller Stärke seiner Einseitigkeit, die kleinen artistischen Vor-
züge der Dekadenz gegenüber ihrer großen ethischen Jammerhaftigkeit usw.,
das alles find Dinge, von denen hier fchon oft die Rede war. Jmmer-
hin, es ist eine Freude zu erleben, wie sich neuerdings die Vertreter
solcher männlich schlichter und klarer Anschauungen durch das Tohuwa-
bohu fremder und inländischer Mode- und Jugendverirrungen immer
deutlicher verschiedenen Orts vernehmen lassen.

Aber fo sympathisch gewiß uns allen die Lebensergebniffe sind, zu
denen Polenz seinen Helden gelangen lüßt, und fo richtig mir auch der
Entwicklungsgang Bertings fowohl wie das Tun und Treiben der
Nebenpersonen geschildert erscheint — ich muß doch bekennen, daß Polenz
die schriftstellerische Bewältigung des Stosfes meinem Eindruck nach miß-
lungen ist. Polenz ist zwar überhaupt mehr Schriftsteller im all-
gemeinen als Dichter im besonderen Sinne, d. h. er gestaltet feine Ein-
drücke, auch in feinem Besten, selten unmittelbar mittelst der Phantasie,
er berichtet mehr von ihnen so getreu wie möglich mit Zuhilfenahme
seines beobachtenden Verftandes, kurz cr beschreibt. Hier aber, bei
diefem letzten Werk, wird aus dem fchildernden Beschreiben innerer und
äußerer Geschehnisse viel öfter als gut tut ein begriffliches Erläutern und
Erklären von Umständen und Ursachen. Darunter geht natürlich die Anschau-
lichkeit stellenweise ganz verloren. Zu diesen schwachen Teilen gehört fast
der gesamte Jnhalt des erften Bandes. Freilich, einzelne Stellen, Höhe-
punkte der Entwicklung verraten, daß dem Verfasser des Büttnerbauern
auch das darstellende Erzählertalent keineswegs über Nacht ganz ab-
handen gekommen ift. Dazu rechne ich manches aus dem Verkehr Ber-
tings mit Früulein von Lavan, den Begeisterungsausbruch auf Nietzsches
Zarathustra und vor allem die Schilderung von Almas Schwangerschaft,
Krankheit und Sterben. Doch vermag das Wohlgelungene über die
Müngel des Ganzen meinem Gefühl nach keineswegs hinwegzuheben.
Dazu wirken die vielen theoretischen Auseinandersetzungen über Poesie und
Leben z. B. bei allem erfreulichem Grundgehalt als begriffliche Erörterungen

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