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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 16,1.1902-1903

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Heft 2 (2. Oktoberheft 1902)
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Avenarius, Ferdinand: Literarische Vereine
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https://doi.org/10.11588/diglit.7615#0095

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abenden unsrer literarischen Bereine wenigstens mit Unterscheidungen
gegenüber stehn. Es gibt eine Poesie, die sich so übertragen läßt und
eine andere, die das verbietet. Zumeist aber wird bei solchen Vor-
trägen nicht das Dichten- sondern das Redenkönnen den Erfolg ent-
scheiden, wenn er nicht gar von ganz unsachlichem Personenkultus be-
stimmt wird, und so wird den tieferen Zwecken der literarischen Vereine
gerade durch dieses ihr Bemühen entgegengearbeitet werden. Nur ein
paar überlegenen Feinschmeckern bezahlt hier der Verein einen wirklichen
Genuß, für seine meisten Mitglieder sälscht er das Bild unsrer Literatur.
Möglich, das ist nur meine, vereinzelte Ansicht, möglich, die Dinge sind
noch nicht genug geklürt. Daß die persönliche Vorstellung von Dichtern
nicht die Hauptsache in der Vereinstütigkeit sein, daß sie mit andern
Vereinsarbeiten abgewogen werden sollte, dürften die meisten zugeben.

Werden unsre großen literarischen Vereine von Männern geleitet,
deren Wahl wenigstens die Einladung interessanter Leute wahrscheinlich
macht, so steht es in der „Provinz" um die öffentlichen Vorträge noch
schlechter. Hier allerdings liegen die Dinge insosern meist anders, als
gar kein „literarischer", sondern ein „gemeinnütziger" oder ein „kauf-
männischer" Verein die Redner einzuladen pslegt, die dann auch keine
eigenen Dichtungen vorzutragen pslegen, sondern fremde, oder die über
irgend ein Thema reden. Der betreffende Verein pslegt aber in kleinen
Orten auch die literarischen Jnteressen sozusagen mitzuverwalten, und so
geht er auch uns an. Was er bietet, wählt meistens der Zusall aus
oder die Neugier nach Trägern bekannter Namen oder die Mode oder
die Gewohnheit. Es gibt zwar Leute, die berufs- und geschäftsmäßig
„Redner" vermitteln, aber selbst wer ihre Jdealität hoch genug einschätzen
will, wird bei der unbegrenzten Weite des großen deutschen Rede-Gebietes
ihre Sachkenntnis auch sür Literatur üezweifeln dürfen. Sie vermitteln
eben, was gangbar ist, ohne sich mit Gefühlen der Verantwortlichkeit zu
beschweren, die der Käuser seinerseits vielleicht gar nicht verstände. Die
Behauptung ist schwerlich übertrieben, daß mangels einer guten Organi-
sation unsre kleinstädtischen Vereine in ihrer Gesamtheit alljährlich
hunderttausende sür gänzlich wertlose Vorträge wegwerfen.

Will ein literarischer Verein seinen Mitgliedern nach Möglichkeit
sörderlich sein, so wird er vor allem mit einer salschen Höslichkeit brechen
müssen. Mit dem stillschweigenden So-Tun, als seien selbstverständlich
alle Mitglieder imstande, alle Darbietungen der Literatur ohne Weiteres
zu erfassen. Nicht nur das Schaffen, auch das Nachgestalten einer
tieseren Dichtung ist bekanntlich „schwer," und es ist ebenso töricht, die
nötige Gesülltheit und Beweglichkeit der Phantasie sür solch eine Dich-
tung etwa bei einem Kreis geübter Zahlenbraucher schlichtweg voraus-
zusetzen, wie es töricht würe, bei einem Kreis von Künstlern ohne Weiteres
das Verständnis sür ein mathematischcs Problem anzunehmen. Was
kommt dabei heraus als Bildungsheuchelei? Wer besseres will, wird
dasür sorgen müssen, daß die Saat aus geackerten Boden fällt und daß
es eine Saat ist, die überhaupt aus diesem Boden ausgehn kann.
Sprechen wir immer wieder die ernste Wahrheit aus, daß selbst zur
Zeit unserer Klassiker literarische Kultur keineswegs auch nur unter den
oberen Zehntausend allgemein war, daß sie seit einem halben Jahr-
hundert überall noch weit zurückgegangen ist, daß wir alle ohne unsre

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