Dcr Naturalismus ist heute tot, heiht es, und in der Tat, die
späteren Romanzyklen Zolas haben nicht mehr die Erfolge gehabt, mie
seine „Rougon-Macquart", und von seinen deutschen Schülern will man
nun auch nicht viel mehr wissen. Aber ich glaube, ganz sterben kann
der Naturalismus überhaupt nicht. Er ist jetzt nun einmal in der
Welt. Er war vielleicht auch immer drin. Es ist nicht recht, ihn schlechthin
die Kunst des Häßlichen oder die Kunst des Schmutzes zu nennen, es
ist aber ebenso wenig berechtigt, ihn als die Wahrheitskunst hinzustellen:
er gibt einfach die Kehrseite der Medaille, die Nachtseite der Dinge, und
es ist ziemlich gleichgültig, welche Technik er dabei anwendet, ob er
im Drama durch ungeheure Verzerrungen darstellt, wie manche Zeit-
genossen Shakesperes oder unsere Kunstdramntiker, oder ob cr, wie bei Zola
und seinen Nachsolgern, im Roman den engsten Anschluß an die Wirk-
lichkeit sucht. Beide „Stile" ergänzen sich übrigens, der Krastdramatiker
wie Grabbe wirkt auch durch die Trivialitäten des tüglichen Lebens und
der Wirklichkeitssanatiker wie Zola entgeht den Verzerrungen nicht. Der
wahrhast große Künstler ist kein Naturalist, der sieht sa eben von Natur
nicht bloß eine, sondern beide Seiten der Dinge, er wird auch nicht,
wie der Naturalist, durch die Dinge, ihre rohe Größe oder ihre schreck-
liche Gemeinheit gewissermaßen umgestoßen, er hat die Dinge, ist ihr
Herr, sie werden durch ihn neu. Diese Gedankenreihen durchzusühren,
würde uns freilich hier zu weit sühren. Jmmer, glaube ich, zeigt der
Naturalismus eine Dekadenz des Volkstums an, aber er kann auch der
Ansang der Gesundung sein, und so ist es falsch, ihn zu verdammen,
und ist Heuchelei, wenn es vom Standpunkt einer Afterkunst aus ge-
schieht. Der Zolasche Naturalismus war allerdings sür uns Deutsche
viel zu eng — beispielsweise verstand er, wie das durchaus städtische
Romanentum überhaupt, das Bauerntum nicht und lieferte da erschreck-
liche Zerrbildev —, aber als Sturmblock gegen eine konventionelle, sa
trinal gewordene Kunst hat er auch uns gute Dienste getan. Dann
hat er uns auch die Augen wieder geöffnet sür unsern deutschen „na-
türlichen", nicht doktrinären Naturalismus, der wie der Zolasche, nur schon
vierzig Jahre srüher, im Dienste sozialer Jdeeen stand. Auch ihn ries
eine Dekadenz, die des jungdeutschen Zeitalters, hervor, aber sein Haupt-
vertreter, Jeremias Gotthels, eine durchaus konservative Natur, stand
iveit sester in seinem Volkstum, und dieses Volkstum selbst war kräftiger.
Jnteressant bleibeu werden Zola und seine Werke auch uns Deutschen
zweifellos noch ans sehr lange Zeit hinaus, aber „das Heil" erwarten
wir nun sreilich längst nicht mehr von einer seiner ähnlichen Kunst, wie
wir's eine Weile lang davon erwartet haben. Nur die Kulturprobleme,
die Zola in seinen Werken behandelt, reizen uns noch, die Lösungen suchen
wir aus anderen Wegen, als er getan hat. Hier und da tritt uns
dann auch der Dichter Zola achtunggebietend entgegen: die eine oder
die andere große Szene, sei sie nun realistischer oder phantastischer Art,
reißt uns immer wieder hin, mögen wir das Ermüdende dieser un-
endlichen Romanzyklen, in denen sich so unendlich viel wiederholt, auch
immer deutlicher spüren. Adolf Bartels.
2. Gktoberheft t902
57
späteren Romanzyklen Zolas haben nicht mehr die Erfolge gehabt, mie
seine „Rougon-Macquart", und von seinen deutschen Schülern will man
nun auch nicht viel mehr wissen. Aber ich glaube, ganz sterben kann
der Naturalismus überhaupt nicht. Er ist jetzt nun einmal in der
Welt. Er war vielleicht auch immer drin. Es ist nicht recht, ihn schlechthin
die Kunst des Häßlichen oder die Kunst des Schmutzes zu nennen, es
ist aber ebenso wenig berechtigt, ihn als die Wahrheitskunst hinzustellen:
er gibt einfach die Kehrseite der Medaille, die Nachtseite der Dinge, und
es ist ziemlich gleichgültig, welche Technik er dabei anwendet, ob er
im Drama durch ungeheure Verzerrungen darstellt, wie manche Zeit-
genossen Shakesperes oder unsere Kunstdramntiker, oder ob cr, wie bei Zola
und seinen Nachsolgern, im Roman den engsten Anschluß an die Wirk-
lichkeit sucht. Beide „Stile" ergänzen sich übrigens, der Krastdramatiker
wie Grabbe wirkt auch durch die Trivialitäten des tüglichen Lebens und
der Wirklichkeitssanatiker wie Zola entgeht den Verzerrungen nicht. Der
wahrhast große Künstler ist kein Naturalist, der sieht sa eben von Natur
nicht bloß eine, sondern beide Seiten der Dinge, er wird auch nicht,
wie der Naturalist, durch die Dinge, ihre rohe Größe oder ihre schreck-
liche Gemeinheit gewissermaßen umgestoßen, er hat die Dinge, ist ihr
Herr, sie werden durch ihn neu. Diese Gedankenreihen durchzusühren,
würde uns freilich hier zu weit sühren. Jmmer, glaube ich, zeigt der
Naturalismus eine Dekadenz des Volkstums an, aber er kann auch der
Ansang der Gesundung sein, und so ist es falsch, ihn zu verdammen,
und ist Heuchelei, wenn es vom Standpunkt einer Afterkunst aus ge-
schieht. Der Zolasche Naturalismus war allerdings sür uns Deutsche
viel zu eng — beispielsweise verstand er, wie das durchaus städtische
Romanentum überhaupt, das Bauerntum nicht und lieferte da erschreck-
liche Zerrbildev —, aber als Sturmblock gegen eine konventionelle, sa
trinal gewordene Kunst hat er auch uns gute Dienste getan. Dann
hat er uns auch die Augen wieder geöffnet sür unsern deutschen „na-
türlichen", nicht doktrinären Naturalismus, der wie der Zolasche, nur schon
vierzig Jahre srüher, im Dienste sozialer Jdeeen stand. Auch ihn ries
eine Dekadenz, die des jungdeutschen Zeitalters, hervor, aber sein Haupt-
vertreter, Jeremias Gotthels, eine durchaus konservative Natur, stand
iveit sester in seinem Volkstum, und dieses Volkstum selbst war kräftiger.
Jnteressant bleibeu werden Zola und seine Werke auch uns Deutschen
zweifellos noch ans sehr lange Zeit hinaus, aber „das Heil" erwarten
wir nun sreilich längst nicht mehr von einer seiner ähnlichen Kunst, wie
wir's eine Weile lang davon erwartet haben. Nur die Kulturprobleme,
die Zola in seinen Werken behandelt, reizen uns noch, die Lösungen suchen
wir aus anderen Wegen, als er getan hat. Hier und da tritt uns
dann auch der Dichter Zola achtunggebietend entgegen: die eine oder
die andere große Szene, sei sie nun realistischer oder phantastischer Art,
reißt uns immer wieder hin, mögen wir das Ermüdende dieser un-
endlichen Romanzyklen, in denen sich so unendlich viel wiederholt, auch
immer deutlicher spüren. Adolf Bartels.
2. Gktoberheft t902
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