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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 16,1.1902-1903

DOI Heft:
Heft 4 (2. Novemberheft 1902)
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Avenarius, Ferdinand: Literarischer Ratgeber des Kunsthandwerks für 1903, [8]: Soziologische Wissenschaften
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https://doi.org/10.11588/diglit.7615#0334

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denen er leidet, sehr nahe. Ferner prägen sich uns natürlich diejenigen Lebensfonnen
der nrenschlichen Gesellschaft, die aus den Bedürfnissen zur Behauptung unseres
materiellen Daseins entspringen, in ihrer Gestaltung und nächsten Bedingtheit viel
eindringlicher ein als die ohnehin schwerer zu beobachtenden geistigen Vorgänge,
welche durch die Gemeinschaft verursacht und an sie wesentlich gebunden sind. Dem-
gemäß ist die wissenschaftliche Bearbeitung der Tatsachen, insoweit sie überhaupt erreich-
var und bis heute vollbracht ist, dem Gebildeten. dessen Studien und Amt ihm nicht
ohnehin besondere Vertrautheit mit dem einen oder anderen Gebiete gegeben haben,
in verschiedenem Grade verständlich und interessant- Unsece besseren Tageszeitunqen
und Zeitschriften leisten hier ein gutes Stück Borarbeit für die systematische, wissen-
schafttiche Betrachtung.

Es scheint uns aus mehreren Rücksichten am besten, Lei den folgenden literarischen
Betrachtnngen mit der sogenannten äußeren Poliiik anzufangen und alsdann die innere
Politik, und zwar im besonderen das Recht, die Wirtschaft, die sozialen Einrichtungen,
und schließlich Sprache und Sitte in Betracht zu ziehen.

1. Aeußere Politik. Die wichtigste Voraussetzung für eine gedeihliche Ent-
wicklung sowohl des einzelnen Menschen wie einer menschlichen Gesellschaft ist die, daß
die näheren und ferneren Nachbarn mit ihnen weder im Kampfe liegen, noch sie be-
drohen. Bekanntlich ist das beste Mittel, sich das Borhandensein diejer Voraussetznng
zu sichern, daß die Nachbarn den Respekt vor der Kraft des Anzngreifenden niemals
verlieren; in zweiter Linie erst kommt die Ausschaltung aller Reibungsflächen. Dem-
gemäß wird eine wissenschaftliche Betrachtung der änßeren Polrtik znm Gegenstande
haben: erstens die üußeren Formen menschlicher Gemeinschaften uud die Mittel, sie
gegen Nachbarn geltend zu machen; zweitens die Beziehungen politisch selbständiger
Gemeinschaften zu einander und die Mittel, gemeinsame Jntecessen auf die allfeitig
ersprießlichste Weise zu wahren.

Die änßeren Formen menschlicher Gemeinschaften von dec Familie an bis zum
Staat und zum Reich, die von Lage und Ausdehnung des Grund und Bodens, den
jede Gemeinschaft für sich ausschließlich in Anspruch nimmt, abhängig sind, sindet man
behandelt in: L. Gumplowicz, „Grundriß der Soziologie", I. Lippert, „Ge-
schichte der Familie", A. Rauber, „Urgeschichte des Menschen", Bd. 2: „Territorialer
Ueberblick, Entwicklungsgeschichte der Gesellschaft"; F. Ratzel, „Politische Geographie".
Jm übrigen sei gerade für diese Probleme dringend auf die Geschichte und die
Länder- und Vvlkerkunde vecwiesen, znmal eine umfassende wissenschaftliche Be-
trachtung der üußeren Formen menschlicher Gemeinschaften anders als unter dem ge-
schichtlichen Gesichtspunkte noch nicht gegeben ist; nur die philosophische Soziologie
ssiehe unter „Philosophie"!) bietet hier Ersatz.

Als Daseinsform größerer nnd selbständiger menschlicher Gemeinschaften kommt
heute allenthalben nur die Form des Staates in Betracht. Die Mittel zur Selbst-
behanptung des Staatswesen gegen einander sind dieselben, wie zwischsn Jndividuum
und Jndioiduum: Kampf mit materiellen oder geistigen Mitteln. Aus dec um-
fangreichen Lileratur über Kriegsverfassungen und Strategik besondece
Bücher hervorzuheben, sind wir nicht sachkundig genuq; indes glauben wir doch
wenigstens verweisen zu dürfen auf Moltkes „Geschichte des deutsch-franzö-
sischen Krieges" und feine „Taktischen Aufgaben aus den Jahren 1858 — 1882",
sowie auf das neue, erst teilweise erschienene Werk von H. Delbrück, „Gsschichte
der Kriegskunst vom Altertum bis auf die Gegenwart". — Den geistigen
Kampf der Staaten nennt man bekanntlich Diplomatie. Die Diplomatie
ist zu sehr Kunst und arbeitet durchaus mit den allgemeinen geistigen Gaben, als daß
sie normative Regeln vertrüge oder als besondere seelische Betätigung Gegenstand wissen-
schaftlicher Betrachtung zu werden vermöchte. Es handelt sich atso hier nur um die
Nennung der äußeren Formen des diplomatischen Verkehrs und der Geschäfte, welche
die Diplomaten als die ständigen Träger der staatlichen Beziehungen zu besorgen haben.
Die beste Einsicht erlangt man auch auf diesem Gebiete wieder durch das Stndium der
politischen Geschichte, die ja charakteristische und mannigfaltige Beispiele in erdrückender
Fülle darbietet. Die Verteilung der diplomatischen Geschäfte ist natürlich von Staat
zu Staat eine andere; die wenigen gemeinsamen Titulaturen wie Ministec, Botschafter,
Gesandtec, Konsul u. s. w. besagen wenig für die praktische Bedeutung dieser Posten.
Znr Belehrung über die betreffenden deutschen Einrichtungen eignet sich vornehmlich
die Verfolgung dec Beratungen des „auswärtigen Etats" im deutschen Reichstage und
eine Durchsickst der allerdings im allgemeinen Handel schwer erhältlrchen regelmäßigen
Veröffentlichungen des Kaiserlichen Auswärtigen Amtes. — Sind nun Krieg und Diplo-

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