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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 16,1.1902-1903

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Heft 11 (1. Märzheft 1903)
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Avenarius, Ferdinand: Traum-Bildnerei
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https://doi.org/10.11588/diglit.7615#0767

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tionen daraufhin ansehen, das Bild, das sein Maler aus einem Ge-
fühl heraus „Nachtmotten" nennt. Keiner von uns hat dergleichen
je im Wachen gesehn. Aber wohl ein jeder hat Aehnliches fchon ae-
träumt —und trotzdem: gemalt oder gezeichnet worden ist es fchwer-
lich fchon je. Das Weglöschen der Ferne, wie oft im Traum; das
Hinschweben, das oft ein Hinfließen ist, wie oft im Traum; alles ver-
schwommen, wie oft im Traum; eine Einzelheit aber fcharf und
grausig unheimlich, wie gleichfalls oft im Traum: die krallige Knochen-
hand; dazu der eulenartige Vogel, dessen Flügel so groß und so
teufelsmäßig sind. Ja, das zeigt einer jener Beängstigungs-Träume,
in denen wir rings Entsetzliches fühlen, ohne es recht zu sehn. Noch
mehr gilt dasselbe von oem Bilde „Gefahr" mit den Händen, die so
riesig auf den Beschauer heranwachsen — jeder von uns hat Aehn-
liches hundertmal geträumt, doch wie wenige haben es darzustellen
versucht!

„Muß" man's denn darstellen? „Soll" man's denn?

Gott bewahre uns vor einer Ueberflutung mit Traumbildern!
Sie würden aller Wahrscheinlichkeit nach in der Tat nur eine Ueber-
wässerung sein, denn in diesen Flüssigkeiten lösen sich wertvolle Be-
standteile allein den Stärksten. Es würe schön, wenn wir wirklich
fo etwas wie einen großen Schatz don Traumvorstellungen der Mensch-
heit gewinnen könnten, überaus interefsant für die Wissenschaft der
Seelenkunde und überaus anregend für die Kunst, zumal sich ja im
Traumleben vielleicht uralte Geschlechter-, Rassen-, Gattungsgeheimnisse
mit den letzten unmittelbar anschaulichen Spuren verraten. Aber zu
Tausenden bekämen wir aller Wahrscheinlichkeit nach doch nur ge-
machte Träume auf einen echten zu sehn. Und sehr möglich: wir
gerieten in eine gefährliche Phantasterei. Jmmer noch besser, wir
reisen im Mondeslande nur ganz selten einmal, als wir entwöhnen
uns dafür des Lebens unter der hellen Sonne.

Daß es den Meister verlangt, Traumanschauungen zum Aus-
druck von W i r k l i ch k e i t s gefühlen zu brauchen, das zeigt uns auch
Kubin überall, wo er den großen Schritt dazu wagt. Und nicht nur,
weil sein Zeichnenkönnen noch recht bescheiden, weil seine Beherr-
schung der Daseinsformen noch so mangelhaft ist, daß es auch in
den neueren Bildern mitunter beinahe dilettantisch erscheint. Sondern
auch, weil seine Phantasie zu diesen gewaltigen Anstrengungen
denn doch oft nicht ausreicht. Das dritte unsrer Vilder, „Nach der
Schlacht", ist von 'den Zeichnungen dieser Gruppe sicherlich eins der
allerbesten, es ist auch die einzige von unsern dreien, welche in die
Mappe mit Reproduktionen Aufnahme gefunden hat. „Nach der
Schlacht" — die erste Anschauung ist traummäßig echt, ist sogar groß:
der lange Zug der Geier, die übers verschneite Feld zu dem weißen
Bergzug und über ihn hinfliegen, in der Tat, das ist kraftvoll ge-
fehn und voll düsterer Stimmung. Auch daß der Bergzug dort
hinten wie eine liegende Gestalt nicht eigentlich erkannt, aber doch
empfunden wird — auch das ist „echt". Aber wenigstens für mich
ist dic Umsetzung dieses Gefühls in gezeichnete Anschaulichkeit nicht
recht gelungen, ist sie zu nüchtern geworden mit dem annähernd
richtig proportionierten und gar zu deutlich markierten Arm und Ge-

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