Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 16,2.1903

DOI Heft:
Heft 15 (1. Maiheft 1903)
DOI Artikel:
Göhler, Georg: Musikpflege und Tagespresse
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.7954#0152

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Zug sich selber immer völliger, dem Verstande und dem Gefühle des
Hörers deutlicher und anschaulicher formt. Da strahlt aller Glanz von
Jnnen und kein Schönsein glänzt ohne Wahrsein. Denn „Genie ist
Sinn für die Wirklichkeit", auch das rednerische, darum kommt es in
seinen höchsten Entfaltungen nicht hinaus über das was das schlichteste,
kunstloseste Wort jedes wirklich von seiner Sache Ergriffenen auch kann:
selbst wieder ergreifen, erschüttern, den Hörer das innerlich erleben
lassen, was im Redner und so auch im Atem seiner Rede lebt.

Auch der wahrhaft Begeisterte mag scine Worte wahlen, und scine
Besonnenheit mag dem Drange seines Herzens die Wage halten: aber
er sucht nicht, wie der Begeisterungsredner, aus einem fertigcn Vorrat
darnach, sondern sein Sprachsinn bietet den treffendsten Ausdruck dar
sür jede Bewegung seines mit der Sache sclbst geeintcn Denkcns und
Fühlcns. Darum ist keineswegs Bilderreichtum, Kühnhcit der Wen-
dungen, Neuheit der Wortbildungen das notwendig erforderte Merkmal
der begeistcrten Rede. Aber wer aus dem Druck und Stoß seincs von
der Gewalt seiner Sache beherrschten Herzens redet, der fühlt den Wert,
die Kraft, den tiefsten Sinn jedes Wortes, das er spricht; er setzt es gleich-
sam wieder in alle seine Rechte ein und gewinnt ihm so ein neues Leben. —

Unsere späte Kultur, ausgestattet mit einem ungeheuren Erbe, in
das sie von der Arbeit vergangener Geschlechter gesetzt worden ist, wird
seiner doch nicht froh, weil sie cs nicht zum Wachstum eigner Lebens-
kraft verwalten und nützen kann. Aber Leben wird nur vom Leben
gezeugt, und allein das Wirkende ist wirklich; dahingegen alles, was durch
Ueberlieferung nur dem Wissen zufließt, weil kein gefühltes Bedürfnis
entgegenkommt, zunächst ein toter Schatz, ja eine Last ist. Schon die,
früheren Zeiten unbekannte Wichtigkeit, die von der Gegenwart der Schule
auf allen ihren Stufen als Unterrichtsanstalten beigemessen wird, beweist,
daß es der heutigen Kulturwelt an Gleichgewicht zwischen Leben und
Lehre gebricht, und wenn wir Jetzigen keinen Hütejungen und kein Günse-
mädchen mehr auf ihre grünen Weiden ziehen lassen, ohne ihnen ihr
Päckchen gelehrten Wissens aufgeladen zu haben, so zeigt sich, zu welch
ungeheurer Menge die Historie aufgehäust ist, so daß ihre Flut auch
den Verschlossensten und Verlassensten berieselt.

Künnen wir uns darum wundern, wahrzunehmen, daß das Leben
grade der höher Gebildeten allzu oft in Parenthesen stecken bleibt, oder
wollen wir leugnen, daß die Klage über Mangel an innerer Freiheit
und Selbständigkeit in unsrer Zeit berechtigt sei? Woher diese Unkraft
des Personlebens so allgemein, daß Märtyrer der Ueberzeugung uns
kaum noch verständlich sind, wenn nicht eben aus der Vielheit und
Mannigfaltigkeit des auf den Zögling unsrer Kultur eindringenden, ihm
sozusagen fertig übermittelten geistigen Besitzes, der sich mit den Krüften
seines eignen und des ihn umgebenden Lebens nicht einigen will?
Zwischen uns und die Dinge treten zu sehr die Gedanken über die Dinge
und, was das Schlimmste ist, die Gedanken andrer. Hat nicht selbst
Goethe am Abend seines Lebens über so viel verlorene Zeit geklagt, die
er mit geistiger Beschäftigung ohne Folge hingebracht habe? Er, ein
Gedankenbezwinger wie er in Jahrhunderten einmal erscheintl

Wie aber ist seit seinen Tagen die Summe des Wißbaren und
zu wissen für nötig Gehaltenen angeschwollen, und der Wissensstoff mit

NS

p Maiheft lyoz
 
Annotationen