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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 16,2.1903

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Heft 20 (2. Juliheft 1903)
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Rundschau
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https://doi.org/10.11588/diglit.7954#0474

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kuncisckau

Hllgerneineres.

V Aesthetisches über dem
Strich.

Bei der Behandlung des Falles
Hugo Vogelistin verschiedenen deutschen
Tagesblättern wohl zum ersten Male
etrvas erfüllt rvorden, was kunstpoli-
tisch Denkende und Arbeitende sich schon
lange gewünscht haben. Der Fall ist
mehrfach an der Spitze auch politi-
scher Zeitungen in einem Leiter be-
handelt, und damit ist sozusagen die
Ebenbürtigkeit kunstpolitischer Erörte-
rungen mit parteipolitischen oon diesen
Blättern anerkannt worden. Freilich,
die trennende Barrisre des Strichs,
die für die Mehrzahl der Leser doch
immer noch eine Scheidung des Wich-
tigen vom Minderwichtigen bedeutet,
ward damit nur aufgezogen, um so-
gleich wieder für so lange Zeit nieder-
zufallen, wie der jähe Druck eines
neuen besonders „aktuellen Falles" sie
nicht wieder hebt.

Sind solche „aktuellen Fälle", in
denen es sich meist nur um entrüstetes
Abwehren handelt, nun wirklich so
gewichtig, datz sie allein sich Ein-
lah in die „oberenRegionen" verschaffen
dürfen? Gibt es nicht auherordentlich
viele andere Dinge, auf die kunst-
politisch, das heißt zu praktischem Ein-
greifen hinzuleiten für die Gestaltung
unserer Gesamtkultur zum allermin-
desten ebenso dringlich wäre? Die
Fragen der Straßen- und Platzanlagen,
der Stadterweiterung, des „Grüns"
in der Grotzstadt, des Häuserbauens,
der Verbesserung unserer Bauord-
nungen, der Erhaltung alter guter
Bauten, des Schutzes landschaftlicher
Schönheit, der dörflichen Bauweise,
der Städtebundtheater, der Volks-
bibliotheken, der öffentlichen Lesehallen,
der Kunst in der Schule, des Denk-
mälersetzens, der Volkskonzerte: sind
diese und andere Fragen wirklich von
geringerem „Kulturernst" für unser
deutsches Leben, als der Einzelfall

des moralschwachen Professors, als die
Lage auf den Philippinen, der letzte
Hofklatsch oder die neueste grohstädtische
Bürgermeisterwahl? Jm Gegenteil,
für die meisten von ihnen, und zwar
gerade für die, die vor allem von den
Kommunen angefatzt werden müssen,
möchte man höchste Dringlichkeit be-
antragen. Wird der Oeffentlichkeit
nicht mit allen Mitteln der Ernst
dieser Dinge nahe gebracht, wird noch
lange im herrschenden Geiste der
„Jetztzeit" weiter gebaut und gepflanzt,
gerodet,niedergerissen und„restauriert",
so werden unsere Enkel sich in recht
vielen Beziehungen ihrer Grotzeltern
schämen müssen. Hier haben z. B. die
Franzosen als ein etwas ganz Selbst-
verständliches schon längst, was wir
erst wünschen. Larl Meißner.

Oiteratur.

W Lebende Worte.

(Der grüne Heinrich hat in dem
Stübchen daheim ein altes Bettchen
aufgestellt gefunden und auf ihm lie-
gend einen Stotz Bücher, Goethes
Werke, die ein Trödler gebracht hat,
um sie zum Verkaufe anzubieten.)

„Vor einigen Jahren hatte ein
deutscher Schreinergeselle, welcher in
unserer Stube etwas zurecht hämmerte,
dabei von ungefähr gesagt: »Der grotze
Goethe ist gestorben«, und dies Wort
klang mir immer wieder nach. Der
unbekannte Tote schritt fast durch alle
Beschüftigungen und Anregungen, und
überall zog er angeknüpfte Fäden an
sich, deren Enden in seiner unsichtbaren
Hand verschwanden. Als ob ich jetzt
alle diese Fäden in dem ungeschlachten
Knoten der Schnur, welche die Bücher
umwand, beisammen hätte, fiel ich
über denselben her und begann hastig,
ihn aufzulösen, und als er endlich auf-
ging, da fielen die goldenen Früchte
des achtzigjährigen Lebens auf das
Schönste auseinander, verbreiteten sich

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Kunstwart
 
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