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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 16,2.1903

DOI Heft:
Heft 23 (1. Septemberheft 1903)
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Platzhoff-Lejeune, Eduard: Vom bildenden Reisen
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https://doi.org/10.11588/diglit.7954#0610

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„Der Junge muß reisen. Es taugt nichts, hinter dem Ofen
Zu hocken. Er soll in die Welt hinaus, andere Länder, Völker und
Menschen sehn, andere Sitten und Gebräuche kennen lernen. Das
wird ihn anrcgen, ihm neue Jdeen geben! Da wird er viel profi-
tieren und seinc Heimat dann nrit andern Augen ansehen!"

„Sie sind nie gereist, Fräulein? Nie in Paris, London, Bcrlin
gewescn?" Mitleidigen Blickes streift der Weltumsegler seine Tisch-
nachbarin, die ihn plötzlich nicht mehr interessiert. „Nie in Berlin
gewesen? Ja, ist denn das denkbar? Das kommt doch nur noch
in verschncitcn Gebirgsdörfern und gottverlassenen Haidenestern vor.
Wie man das nur aushalten kann!"

Rciscn bildet also. Darüber sind sich der gesetzte Familien-
vater und der jugendliche Globe-Trotter einig. Und die erdrückende
Mehrheit aller Mcnschen, die reisen oder reisen wollen, stimmt ihncn
unbcdingt zu. Jmmcrhiu vcrdient vielleicht die gegnerische Minderheit
gehört zu wcrden.

Niemand wird leugnen, daß das Reisen unter Umständen bilden
kann, gerade so gut und mehr noch vielleicht, als das Zuhause-
bleiben. Der verhängnisvolle Jrrtum ist nur der, daß die Tatsache
des Reisens an sich und von vornherein als Bildungsmittel
auch dann betrachtct Ivird, wenn der armc Reiscnde sich gegen dic
Bildungselemente gleichgiltig oder widerstrebend verhält. Nimmt man
denn die Bildung beim Reisen schon sozusagen mit dem Lokomotiven-
dampf und dem Küchengeruch des Restaurationswagens in sich auf? Fin-
det man sie in den Hotelziinmcrn aufgespcichert? Entströmt sie dcn
Kellnern, leuchtet sic von der Dccke und wird sie vom Teller ge-
gessen?

Reisen bildet also, aber wir wollcn doch nicht vergessen, daß
diese an sich richtigc Erkenntnis als unumstößliches Dogma gerade
in ciner Zeit verehrt wird, die alles tut, um den Bildnngswcrt des
Reisens hcrabzudrücken. Es war vor hundert Jahren mit dem Reiscn
beinahe so, Ivie es die obige Karikatur schilderte: die Bildung strömte

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