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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 16,2.1903

DOI Heft:
Heft 23 (1. Septemberheft 1903)
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Platzhoff-Lejeune, Eduard: Vom bildenden Reisen
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https://doi.org/10.11588/diglit.7954#0611

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durch Türeu und Fenster auf den Reisenden. Heute muß man sich
gewaltig anstrengen, um etwas von ihr zu erhaschen. Jch leugne
gar nicht, daß diese Anstrengung von der Hälfte aller germanischen
Reisenden im Schweiße ihres Angesichts gemacht wird; ich leugne
nur, daß sich die Mehrheit sehr geschickt dabei anstellt.

Wir reisen, wo es nicht unumgänglich ist, weder zu Fuß, noch
zu Wagen, sondern mit der Eisenbahn. Wir wechseln den Waggon
nicht mehr unterwegs und steigen weder aus, um unseren Toilette-
bedürfnissen, noch um den Anforderungen unseres Magens zu ge-
nügen. Wir fahren von Breslau nach Genf in einem königlich säch-
sischen und von Frankfurt nach Genua in einem großherzoglich badi-
schen Wagen, und wer's nicht versteht, braucht keinen Lufthauch der
Länder zu verspüren, die er durcheilt: es riecht in Genf noch ganz
sächsisch und in Genua noch ganz badisch dank der herrlichen Erfin-
dung dieser unschätzbaren Harmonikawagen.

Dann geht's ins Hotel, das zum Glück ganz eingerichtet ist,

wie wirs gewohnt sind. Ein deutscher Portier hat uns in einem

deutschen Omnibus zu dem deutschen Besitzer gefahren. Man ist wirk-
lich ganz wie zu Hause, denn auch bei Tisch finden wir nur deutsche
Gesellschaft. Morgen, nach einer in dem deutschen Bett gut ver-
brachten Nacht, werden wir die Museen und Denkmäler der Stadt
— leider unter der Führung eines Ausländers, dessen Deutsch nicht
den gewohnten Akzent hat — bewundern, um übermorgen in einem

deutschen Wagen nach Rom zu fahren, wo wir in einem völlig gleich

ausgestatteten Hotel uns bei der deutschen Suppenschüssel mit eincu
anderen deutschen Familie zusammenfinden werden. Daß es an
einem gerührten Trinkspruch der in der Fremde verlassenen Deutschen
auf die ferne Heimat nicht fehlt, bedarf nur der Erinnerung.

Ein Wort zur Versöhnung des Lesers: nicht nur der Deutsche,
auch der Engländer reist so, und es ist möglich, wenn der Franzose
und Jtaliener fleißiger das Ausland besuchten, daß sie in den gleichen
Fehler verfielen. Worin besteht nun, mit Berlaub, der Bildungs-
wert dieser Methode des Reisens? „Man will doch seinen Komfort
haben", heißt es da. Seien wir aufrichtig: mau will sich zu Hause
fühlen, man sträubt sich mit Händen und Füßen gegen alles Unge-
wohnte und Andersartige. Das will sagen: man verschmäht jedes
Bildungsmittel, das die Reise bietet, und sucht jede Bequemlichkeit
und Belustigung auf. Bildung, wie jeder Vorteil und alle Ueber-
legenheit im Leben, ist eine ernste Sache, die dem Menschen schwere
Entbehrungen auferlegt und heiße Kämpfe kostet. Sie erwirbt sich
auf Reisen nicht leichter, als zu Hause. Freilich, der Schein der
Bildung wird daheim teurer erkauft, als auf Reisen; und daß sich
eine gewisse Gruppe von Menschen unterwegs besser amüsiert, als
in der Wohnstube bei Fritz und Grete, brauche ich auch nicht zu
sagen. Reisen ist also unterhaltend für eine Mehrheit von Menschen.
Es ist außerdem kostspielig und zeitraubend. Hat man zufällig Geld
und damit auch Zeit, so hat man auch mühelosen Zugang zu der
Laufbahn des Reisens, und der Schein der Bildung erwirbt sich be-
quem mit einem wohlgefüllten Portemonnaie.

Doch es gibt Leute, die es mit dem Reisen sehr ernst nehmen

§78

Aunstwart
 
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