DOI Heft:
Heft 19 (1. Juliheft 1903)
DOI Artikel:Hauptmann, Carl: Unsere Wirklichkeit
DOI Seite / Zitierlink: https://doi.org/10.11588/diglit.7954#0375
Unsere Wirklichkeit!
Fürchten Sie nicht, daß ich Sie unter diesem Zeichen in gelehrte
und spitzsindige Untersuchungen führen wollte. Denn freilich, darüber,
was Wirklichkeit sei, und in welchem Widerspiel das Wirkliche gegen
den Schein, oder das Wirkliche gegen ein bloß Vorgestelltes stehe,
haben die Logiker Jahrhundertelang gestritten — und die Wand-
lungen, die unsere Begriffe vom Wirklichen immer wieder durch-
gemacht haben von der Ueberzeugung, wonach allein der „Geist", bis
zu der hin, wonach nur die „Materie" wirklich ist, und so oft im Zeiten-
verlaufe pendelnd hin und her — sie habcn auch Forscher, die über
das Zurcichendc unserer Sacherkenntnis Klarheit suchten, leidenschaft-
lich beschäftigt.
Mir lag nichts serner, als die Richtung solcher Erwägungen.
Nicht Begriffe, ich hatte Erlebnisse im Auge. Nicht subtile
Sondierungen von Begriffen, so notwendig sie für tausend Zwecke
der Gesellschaft sein mögen, uns soll hier die Wirklichkeit beschäf-
tigen, wie sie eines jeden von uns eigenstes, unmittelbarstes Lebens-
gut, persönlichster Urbesitz ist, und die Einengung, die dieser unser
wertvollster, wesenhaftester Urbesitz in der fortschreitenden Erstarkung
der gesellschaftlichcn Kultur mehr und mehr erfahren hat.
Jch möchte meine Absicht im voraus kurz in ein Bild sassen.
Jch dachte mir, du sprichst zu dem modernen Menschen schlechthin.
So machte ich mir eine Ansicht von diesem modernen Menschen. Jch
sah ihn wie — einen mittelalterlichen Ritter. Jch sah einen Mcn-
schen, eingeschnürt in eine gewaltige, starre Rüstung und mit Waffen,
die durch Lüfte und über Meere reichen, so eingeschnürt, daß Waffen
und Rüstung fast Flcisch und Bein erdrücken. Zu diesem Menschen,
der in solcher starren Rüstung stolz einhergeht, wie nur einer, sollte
ich sprechen. Da dachte ich weiter: ob er denn nicht seine Rüstung
* Den folgendcn Vortrag hat Carl Hauptmann auf eine Einladung des
Giordano Bruno-Bundes zu Berlin im dortigen Nathause gehalten. Sonder-
drucke davon in vornehmer Ausstattung stnd bei Callwey in München erschienen.
2AS
1. Iuliheft syoz
Fürchten Sie nicht, daß ich Sie unter diesem Zeichen in gelehrte
und spitzsindige Untersuchungen führen wollte. Denn freilich, darüber,
was Wirklichkeit sei, und in welchem Widerspiel das Wirkliche gegen
den Schein, oder das Wirkliche gegen ein bloß Vorgestelltes stehe,
haben die Logiker Jahrhundertelang gestritten — und die Wand-
lungen, die unsere Begriffe vom Wirklichen immer wieder durch-
gemacht haben von der Ueberzeugung, wonach allein der „Geist", bis
zu der hin, wonach nur die „Materie" wirklich ist, und so oft im Zeiten-
verlaufe pendelnd hin und her — sie habcn auch Forscher, die über
das Zurcichendc unserer Sacherkenntnis Klarheit suchten, leidenschaft-
lich beschäftigt.
Mir lag nichts serner, als die Richtung solcher Erwägungen.
Nicht Begriffe, ich hatte Erlebnisse im Auge. Nicht subtile
Sondierungen von Begriffen, so notwendig sie für tausend Zwecke
der Gesellschaft sein mögen, uns soll hier die Wirklichkeit beschäf-
tigen, wie sie eines jeden von uns eigenstes, unmittelbarstes Lebens-
gut, persönlichster Urbesitz ist, und die Einengung, die dieser unser
wertvollster, wesenhaftester Urbesitz in der fortschreitenden Erstarkung
der gesellschaftlichcn Kultur mehr und mehr erfahren hat.
Jch möchte meine Absicht im voraus kurz in ein Bild sassen.
Jch dachte mir, du sprichst zu dem modernen Menschen schlechthin.
So machte ich mir eine Ansicht von diesem modernen Menschen. Jch
sah ihn wie — einen mittelalterlichen Ritter. Jch sah einen Mcn-
schen, eingeschnürt in eine gewaltige, starre Rüstung und mit Waffen,
die durch Lüfte und über Meere reichen, so eingeschnürt, daß Waffen
und Rüstung fast Flcisch und Bein erdrücken. Zu diesem Menschen,
der in solcher starren Rüstung stolz einhergeht, wie nur einer, sollte
ich sprechen. Da dachte ich weiter: ob er denn nicht seine Rüstung
* Den folgendcn Vortrag hat Carl Hauptmann auf eine Einladung des
Giordano Bruno-Bundes zu Berlin im dortigen Nathause gehalten. Sonder-
drucke davon in vornehmer Ausstattung stnd bei Callwey in München erschienen.
2AS
1. Iuliheft syoz