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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 16,2.1903

DOI Heft:
Heft 19 (1. Juliheft 1903)
DOI Artikel:
Hauptmann, Carl: Unsere Wirklichkeit
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https://doi.org/10.11588/diglit.7954#0376

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fühlt? Und mir kam der Gedanke, ihn einmal die ganze, schwere
Rüstung fühlen zu lassen, ihn fühlen zu lassen, was sie in ihm er-
drückt, woran sie ihn hindert, wovon sie ihn abtrennt. Jch wollte
ihm sozusagen das Tragische solchen modernen Rittertums zcigen, um
— wenn er es wirklich einmal fühlte — weiter zu erwägen, wie
er wohl etwas von seiner Freiheit zurückgewinnen könnte, etwas von
der natürlichen Freiheit und dem natürlichen Glücke, wie sie der
Mensch in den Kindheitstagen der Kultur. besaß, da, wie Hiob sagt,
Gottes Geheimnis noch über eines jeden kleiner Hütte stand.

Kommen Sie nicht in Versuchung, ein jeder von Jhnen, sich
unwillkürlich von oben bis unten zu betrachten und nach solcher
Rüstung zu suchen? Ja! wenn es ein so greifbares und sichtbares
Ding wäre, dann wäre die Sache leicht. Dann wäre anch ein leichtes,
sie abzuwerfen, wenn sie allzuschwer drückte. Nein, nein! so un-
mittelbar fühlen Sie sie nicht. Es ist eine unsichtbare Rüstung. Das
ist das Unheimliche daran. Das ist auch das Täuschende. Sie fühlen
zu machen — diese Rüstung — ist durchaus kein ganz einfaches und
leichtes Geschäft. Und ich kann nur hoffen, daß es mir ahnungs-
weise gelingt.

Jch will mit einer Geschichte beginnen. Sie steht in „Tausend-
undeiner Nacht" und beschästigt sich mit einem Diebstahl. Achmed
Komakom, der Bcfehlshaber der Scharwache, so hieß der Dieb. Eines
Abends besucht der Sultan seine Gemahlin und legt Reichssiegel nnd
andere Kleinodien im Vorzimmer ab. Achmed Komakom sieht die
Dinge liegen und stiehlt sie. Es befindet sich darunter auch ein dia-
mantner Leuchter. Komakom bringt alles in sicheren Gewahrsam,
vergräbt es irgendwo. Nur den Leuchter behält er für sich. Dabei
stellt der Dieb folgende Betrachtung an: „Wenn ich mir beim Trunke
gütlich tue, will ich diesen Leuchter vor mich hinstellen, und so werde
ich die klare Flüssigkeit in meinem Glase von dem Glanze des Goldes
und der Edelsteine, womit er besetzt ist, funkeln sehen."

Halten Sie es für möglich, daß unsere Diebe von heute in
solcher Absicht stehlen? Glauben Sie, daß einen von ihnen noch
die Sinnenfreude leitet? daß einer denkt, nnn werde ich den Dia-
manten besitzen, dieses Wunder klarsten Wassers, das zum här-
testen Fels geworden, der noch den kleinsten Lichtfunken in sich zum
Strahle sammelt? — Er denkt, so ein Stück ist goldeswert, ist geldes-
wert. Das ist der Maßstab sciner Frende. Damit hat er genug.
Er will und wird den Diamanten verkaufen, um Geld zu haben.
Das ist der einfache Sinn seines Diebstahles.

Merken Sie nun, was unsere Diebe von Komakom unter-
scheidet? Daß etwas sie von der Wirklichkcit des Diamanten, von
der Urquelle seines Wertes, von dem natürlichen Glück seines Be-
sitzes trennt? Komakom hatte — sagen wir — eine Art Liebcs-
verhältnis zu dem schönen Stein. Er wollte sich am Strahlen des
Diamanten gütlich tun. Er freute sich, wie Kindcr sich freuen, auf
das Glitzern und Glänzen. — Unsere Diebe sind nicht scntimental.
Es sind Gesellschaftsmenschen. Sie stehlen soznsagen zu Gesellschafts-
zweckcn, zu ihrer Befriedigung innerhalb des Gesellschaftslebens. Sie
stehlen nicht um unmittelbarer Sinnenfreude au den Dingen willen»
die sie in dem Maße überhaupt gar nicht mehr besitzen.

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Runstwart
 
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