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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 16,2.1903

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Heft 19 (1. Juliheft 1903)
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Hauptmann, Carl: Unsere Wirklichkeit
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Münzer, G.: Uebungen im Musikhören, [1]: das Volkslied
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https://doi.org/10.11588/diglit.7954#0387

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macht, daß er ehedem z. B. eine heilige Scheu hatte, wenn er dem
reinen Trinkquell sich nahte, daß er seine Füße und seinen Kopf ent-
blößte, weil das Land, wo die erquickende Quelle aus der Erde
sprang, ihm cin heiliges Land galt. Das macht auch, daß cr den
echten Begeisterten wie heiligen Offenbarungen lauschte, daß er mit
Ehrfurcht auch den heiligen Quellen in der Person nahte. Aber aus
Verehrern der kristallenen Quellen, die in der Einsamkeit nieder-
rinnen, sind wir Kulturmenschen und Staatsmenschen gewordcn, die
die gesellschaftlich verständige Absicht, den freien Willen anbeten.

Wissen Sie auch, daß, wie die Sage erzählt, dort, wo die Natur
in ihrer heiligen Einsamkeit waltet und webt wie im Urbeginn, abends
der kristallenen Felsenquelle ein wcißer Rauch entsteigt, der sich zu
einer schönen, weinenden Frau mit regenbogenfarbenem Gewand ver-
wandelt? Sie schwebt um die verlassene, immer noch heilige Quelle
und weint um ihre verlorene Macht. Die Menschen von heute kennen
sie nicht mehr.

Wissen Sie auch, daß, wer Sinn und Erlebnis des Lebens
rein schmecken will um seiner selbst willen, wie jene Kindheitsmen-
schen immer wieder nur den wirklichen Quellen nahen und dort wie
ehedem — in anbetender Erregung Brot und Blumenkränze in den
Grotten niederlegen muß? Larl hauxtmann.

llebungen irn jVIusikkören.

1. Das Volkslied.

Eine weit verbreitete Ansicht geht dahin, daß es zwei ver-
schicdene Arten von Musik gebe: sogenannte „populäre", verständliche
und „schwere", unverständliche, oder Musik für die Aristokraten und solche
für die Plebejer des Geschmackes. Diese Trennung in leichte und schwere
Musik ist ein Unsinn, der Glaube daran ist aber Ursache, daß so
viele die musikalische Kunst als etwas ganz außerhalb ihrer Sphäre
liegendes, für sie unzugängliches auffasscn. Daher muß bctont werden,
daß es eine Scheidung zwischen einer populären Musik, die jeder
verstchn kann, und einer aristokratischen Kunst, die nur Auserwählten
zugänglich ist, sozusagen „a priori" nicht gibt.

Es wird vielen wie eine Ueberraschung klingen, daß selbst das
kleinste Liedchen, das sie gedankenlos gesungen, gepfiffen oder ge-
brummt haben, schon ein feines, genauen Gesetzen folgendes „Kunst-
werk" ist. Wie die kleinste Blüte, die unbeachtet am Wege steht,
regelmäßige Formen, strenge Gesetzmäßigkeit aufweist, so ist auch die
Neinste Liedmelodie nicht ein willkürliches, zufälliges Tonkonglomerat,
sondern ein nach Gesetz und Maß entstandenes Gebilde. Ja, selbst
der „Gassenhauer" ist ein „Kunstwerk". Pfeifen, brummen oder singeu
wir schnell einmal irgend einen. Meinetwegen das schöne Lied: „So
leb' denn wohl du altes Haus:




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Iuliheft ,902

Z05
 
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