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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 16,2.1903

DOI Heft:
Heft 13 (1. Aprilheft 1903)
DOI Artikel:
Pohl, M.: Noch einmal Volksgesang und Schulgesang
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https://doi.org/10.11588/diglit.7954#0023

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I^ock einmal Volksgesang uncl öckulgesang.

Schon vor einiger Zeit wurde einmal im Kunstwart der einstim-
mige Gesang in der Schule als üußerst wertvoll für die Wiederbelebung
des Volksliedes gegenüber dem gegenwärtig gepflegten mehrstimmigen
Gesange bezeichnet, und im zweiten Septcmberheft des vorigen Jahres
trat der Verfasser des Aufsatzes „Schulgesang fürs Leben" mit großem
Nachdruck für eine Umgestaltung des Gesangsunterrichtes in diesem
Sinne ein. Mit einer etwas bitter klingenden Bemerkung fertigte er
den zwei- und dreistimmigcn Schulgesang ab und trat dann mit dem
Vorschlage hervor, zur Bereicherung unseres Volksliederschatzes die
Lieder unserer großen Meister, Beethovens, Schuberts u. s. w. heran-
zuziehen und sie in der Schule einstimmig zur Klavierbegleitung zu
singen. Er versicherte, daß die Sache nicht zu schwierig sei und nicht
zu viel Zeit koste. Das kommt natürlich darauf an, was für An-
forderungen man an den Chor stellt. Selbst Leiter eines Schulchors
weiß ich wohl, daß man mit Schülern unter Umständen mindestens
ebenso viel erreichen kann, wie etwa mit einem Gesangverein, dessen
Bestand sich aus sangeslustigen Erwachsenen zusammensetzt; hier wie
dort ist die Zahl der wirklich Musikalischen meist nicht sehr bedeutend,
aber trotzdem kann man durch verständige Anleitung auch mit der
großen Zahl der nur „brauchbaren" Sänger ganz Erfreuliches er-
reichen. Jch bezweifle also gar nicht, daß Herrn Friedrichs kleine
Mädel Reinickes „Storch, Storch, Steiner" und „Schneewittchen" zum
Entzücken gesungen haben; ich zweifle um so weniger daran, weil
es eben sieben- bis achtjährige waren, denen man im Ausdruck und
Vortrag noch beinahe alles beibringen kann, was man nur will, denn
sie kennen noch kaum das Genieren vor der Empfindung und geben
Gedicht und Lied zumeist genau so wieder, wie es verlangt wird.
Jch zweifle auch deswegen nicht daran, weil cs Reinickes einfache,
auf kindlichen Ton gestimmte Lieder sind, die hier von den kleinen
Sängerinnen verlangt wurden.

Weniger will cs mir in den Sinn, wenn ich mir vorstellen soll,
daß ein Schulchor Beethovens „Kennst du das Land" und sein „Mai-
lied" oder gar Schuberts tief leidenschaftliches „Nur wer die Sehn-
sucht kennt" zu großem Genuß der Zuhörer gesungen haben soll.

Einmal nämlich vertragen nicht alle einstimmig zur Klavierbe-
gleitung komponierten Texte dcn Vortrag durch einen Chor. Die
so unendlich persönlich gestimmten Mignonlieder geben Empfindungen
wieder, die eben nicht vierzig bis fünfzig Menschen auf einmal haben.
Der Vortrag eines solchen Liedes erfordert mehr als das bloße An-
lernen, auf das cs beim Chor doch mehr oder weniger immer hinaus-
laufen wird, selbst wenn es so feinsinnig gemacht wird, wie dies Frie-
drichs in seinen Bemerkungen über Phrasierung auseinandersetzt. Es
wäre ja ein Wunder, wenn die einzelnen Mitglieder eincs Chors cin
so individuell gefärbtes Lied, wie Goethes „Nur wer die Sehnsucht
kennt" in allen seinen Teilen gleichmäßig empfindcn sollten; den einen
ergreift diese, den anderen jene Stelle stärker: nnd nun jene Glcich-
mäßigkeit künstlich erzwingen zu wollen, bei Kindern, denen die Stim-
mungen und Gedanken eines solchen Liedes unendlich fern liegen —

t- Aprilheft tyoz n
 
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